Der Blick zweier
prominenter Architekten auf
Stadt und Land

Stadt und Land: Zwei der prominentesten Architekten unserer Zeit plädieren dafür, den Blick in die Landschaft zu richten. Ein Interview geführt von der Neuen Zürcher Zeitung mit Rem Koolhaas und Jacques Herzog.

Rem Koolhaas zu Jacques Herzog: «Für mich geht es letztlich um die Frage: Wie kann dieser größte Teil der Erdoberfläche auf andere Weise bewohnt werden?»

Das Interview geführt von Sabine von Fischer mit Rem Koolhaas und Jacques Herzog ist am 25.7.2020 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen:

Interview im Rahmen der Dortmunder Architekturtage 2020 (Ingemar Vollenweider, Rem Koolhaas, Jacques Herzog, Sabine von Fischer) Quelle: Vimeo (https://vimeo.com/488997994)
Interview im Rahmen der Dortmunder Architekturtage 2020 (Ingemar Vollenweider, Rem Koolhaas, Jacques Herzog, Sabine von Fischer) Quelle: Vimeo (https://vimeo.com/488997994)
Stadt und Land sind keine Gegenspieler mehr, sondern unterliegen vielerlei Wechselwirkungen. Jacques Herzog und Rem Koolhaas, zwei der prominentesten Architekten unserer Zeit, plädieren für einen aufmerksamen Blick in nahe und ebenso in entlegene Landschaften. Mit Sabine von Fischer diskutieren die beiden Architekten die Parallelen und Unterschiede ihrer Positionen.

Herr Herzog und Herr Koolhaas, Sie beide behaupten, das Land außerhalb der Städte sei ein blinder Fleck. Aber ist es ein blinder Fleck in den Augen der Architekten, oder hat die Gesellschaft als Ganzes diese Gegenden bisher übergangen?

RK: Ich würde nicht sagen, dass es ein blinder Fleck ist, auch nicht ein blinder Fleck der Architekten. Im Grunde ist mein Interesse eher politischer Natur. Ich sage nur: Die Uno wies schon 2007 warnend darauf hin, dass seit Anfang der 2000er Jahre 50 Prozent der Menschheit in Städten leben und dass der Anteil 2030 oder 2050 vielleicht auf 80 Prozent steigen könnte. Dies würde die völlig irrsinnige Situation schaffen, dass die überwiegende Zahl der Menschheit sich auf winzigen Gebieten ballt. Es ist einfach diese Beobachtung, die mir äußerst beunruhigend erscheint. Und das war für mich ein wichtiger Grund, eine Art Korrektiv mit einem fast schon politischen Anspruch zu schaffen.

JH: Bereits im Jahr 2000 haben wir im ETH-Studio Basel ein Forschungsprojekt über die urbane Topografie der Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Landschaft begonnen. Nach sechs Jahren Forschung präsentierten wir das Ergebnis in der mehrbändigen Publikation «Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait»: Die Schweiz ist eines der radikalsten Beispiele für vollständig urbanisierte Landschaften in Europa. Stadt und Land sind nicht wie früher als Gegenspieler, sondern als gleichberechtigte territoriale und politische Akteure analysiert und beschrieben. Auf globaler Ebene nehmen Städte vielleicht nur 2 Prozent der Fläche unseres Planeten ein, aber zunehmend wird fast alles von Menschen kontrolliert und organisiert. Dies ist faktisch viel alarmierender als alles andere, was wir über die Landschaft – oder das Land oder jeden anderen Begriff, den wir verwenden – sagen können. Es ist unklug, die Städte in die Landschaft zu erweitern, sondern umgekehrt: Wir müssen mehr Natur in die Städte bringen. Das ganze malerische Erscheinungsbild, auf das die Schweizerinnen und Schweizer so stolz sind, ist in Wirklichkeit eine Lüge. Es ist eine hochgradig künstliche Landschaft, in der das Verhältnis zwischen bebautem und unbebautem Land Anlass zur Beunruhigung gibt.

Sie beide sagen, die gegenwärtigen Entwicklungen auf dem Land seien alarmierend, darum suchten Sie nach einem Korrektiv. Neben den vielen Parallelen Ihrer Karrieren gibt es aber auch Unterschiede, so in der Größenordnung Ihrer Forschung: Bei «Achtung: die Landschaft» geht es um die Kartierung der Schweiz, eines kleinen Landes in der Mitte Europas. Der Maßstab des Projekts «Countryside, The Future» dagegen ist sehr viel grösser; hier es geht um die ganze Welt. Wo liegt also in diesen unterschiedlichen Ansätzen die jeweilige Absicht, wenn Sie auf nationaler Ebene oder auf globaler Ebene agieren?

RK: Was Jacques gemacht hat, können Sie vielleicht ein Projekt nennen; aber was wir gemacht haben, ist nicht wirklich ein Projekt. Es steckt auch keine Absicht dahinter. Es ist im Grunde genommen ein Warnsignal, eine Bestandsaufnahme verschiedener Phänomene, die man auf dem Land sehen kann, wenn man genau hinschaut – und vor allem, wenn man sie interpretiert. Jacques hat recht, wenn er sagt, dass der Einfluss der Städte auf dem Land sehr groß ist und dass dies an sich schon eine Bedrohung für den ländlichen Raum darstellt. Aber wir haben uns nicht nur mit dem Einfluss der Städte befasst, sondern auch mit den Auswirkungen des aktuellen Diskurses – etwa der starken Fokussierung aufs Digitale. Wenn man sich die Auswirkungen von Silicon Valley auf die Landschaften in Kalifornien und in Nevada, aber auch auf die Landschaften in Asien ansieht, dann sieht man riesige Kisten, fast völlig abstrakte Gebilde, die es in diesem Maßstab noch nie gegeben hat und die schon fast ohne Bewohner existieren können. Das ist eine Kategorie der Dinge, die wir betrachtet haben.

In Ihrer Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum zeigen Sie Fotografien, die gigantische Lagerhäuser und Produktionsanlagen in der Wüste zeigen. Sie behaupten nun, dass diese bisher von Architekten weder thematisiert noch angeschaut wurden . . .

RK: Ich wünschte, wir könnten das Wort «behaupten» beiseitelassen, denn eigentlich möchte ich nur betonen, dass wir dieses ganze Unterfangen mit einer grundsätzlichen Bescheidenheit ausgeführt haben. Wir fanden Berichterstatter und Bewohner, die unter diesen speziellen Bedingungen leben und daran interessiert waren, diese zu schildern. Eigentlich lag unsere Aufgabe in der Orchestrierung der rund sechzehn Koautoren, die alle an einem kollektiven Porträt gearbeitet haben. Eine Behauptung würde ja einen Anspruch auf Eigentümerschaft suggerieren. Uns aber geht es um eine Reihe von Warnsignalen, die aus diesen wenig bekannten und auch überraschenden Gegebenheiten auf dem Land resultieren und die wir aufzeigen möchten.

JH: Rem, du sagtest allerdings im Zusammenhang mit deinem Projekt «Countryside», dass kein anderer Architekt je zuvor die Landschaft so betrachtet habe wie du, was natürlich nicht stimmt . . .

RK: Nein, nirgendwo sage ich so etwas, Entschuldigung!

JH: Okay, ich habe leider die Ausstellung in New York nicht gesehen. Das Buch aber schon. Riesige Industrieanlagen, die sich in ehemals unberührten Landschaften ausbreiten, machen uns Angst, vor allem wenn sie ohne die Anwesenheit von Menschen zu funktionieren scheinen. Noch beängstigender sind die fehlende Regulierung solcher Unternehmen durch die Regierungen und die Frage des Landbesitzes. Wir haben die Kontrolle verloren, nicht als Architekten, sondern als Gesellschaft insgesamt. Wem gehört das Land? In den Städten sind wir daran gewöhnt, dass Grundstücke im Besitz von Privatpersonen, Familien, Unternehmen oder der Regierung sind. Außerhalb der Städte sind die Eigentumsverhältnisse jedoch weit weniger transparent – oft ist der Boden in den Händen riesiger Immobilientreuhandgesellschaften und sogar fremder Staaten. Das öffnet der Ausbeutung von Land, Landschaft und Territorium Tür und Tor. Dies sind Dinge, die unsere freien Gesellschaften zunehmend bedrohen. Es ist ein Feld von ungelösten Problemen, weit entfernt vom traditionellen Arbeitsbereich der Urbanisten und Architekten. Jede Forschung auf diesem Gebiet, jeder Film oder jede andere Form der Dokumentation ist hilfreich und unterstützt unsere eventuelle politische Handlungsfähigkeit.

Würden Sie also beide sagen, dass Ihre Projekte vorerst nur Inventare sind?

RK: Ich denke, es gibt ein solches Inventar als wichtigen Teil der Ausstellung. Wir haben dokumentiert, wie im 20. Jahrhundert eine Reihe von politischen Regimen ganz explizite Vorstellungen über die Nutzung der Landschaft hatten. Wir machten eine großformatige Collage, in der Sie sehen, dass in den 1920er Jahren in Europa und auch während der Gründung der Europäischen Union politische Vorstellungen über den Status des ländlichen Raums existierten; das gab es auch in der arabischen Welt, bei Stalin oder in der Volksrepublik China. Was Sie seit ungefähr drei Jahrzehnten oder seit dem Fall der Berliner Mauer sehen, ist eine gravierende Abnahme der politischen Aufmerksamkeit für den ländlichen Raum, ein fast vollständiger Rückzug der Politik vom Land. In der Ausstellung zeigen wir, dass die Situation noch vor fünfzig Jahren völlig anders war. Und deshalb insistiere ich immer wieder auf dem politischen Aspekt des Ganzen und nicht auf irgendeiner architektonischen Aktion. Ich denke, dass Jacques in diesen Belangen gleich reagiert wie ich.

JH: Wie du schon sagtest, die früheren Imperien des Sozialismus und Kommunismus hatten faszinierende, aber auch beängstigende Konzepte für die Landschaft. Ich weiß nicht, ob wir dorthin zurückwollen. Aber ich denke, wir sollten uns eine Zukunft vorstellen, in der das Land allen gehört, nicht ausländischen Regierungen oder großen Unternehmen. Die Kartierung der territorialen Ausdehnung des Privateigentums hilft uns, die Dimensionen dieses Problems zu verstehen. Die Schweiz war eines der ersten Länder, die ihre Landschaft einschließlich der abgelegenen alpinen Gebiete vollständig kartiert haben. Jedes kleine Stückchen Land aufzuzeichnen, zu definieren, zu beschreiben, schafft ein Bewusstsein für die Ausdehnung der realen und physischen Welt, die uns umgibt. Es schafft ein Gefühl des ganzheitlichen Verständnisses der gebauten und nicht bebauten Welt.

Und mit welchen Mitteln wollen Sie dieses Ganze erfassen?

JH: Wenn Dinge kartiert werden, erhalten sie einen Namen, sonst bleiben sie Überbleibsel, ein Rest. Dies ist der Beginn einer Identitäts- und Rollenzuweisung innerhalb eines größeren Kontexts einer bestimmten Landschaft, sei es eine Wüste, ein Wildpark, ein landwirtschaftliches Gebiet, ein Weinberg oder eine vorstädtische Nachbarschaft. – Während wir reisten und forschten, entdeckten wir solche Identitäten durch einen oft sehr intensiven, emotionalen und manchmal schmerzhaften Prozess der Wahrnehmung und gemeinschaftlichen Diskussion. In diesen Diskussionen ging es oft um Grenzen, die unsichtbar durch Städte und Landgebiete verlaufen. Solche Grenzen können sozialer, politischer oder geografischer Natur sein oder sogar durch botanische Linien definiert, in den Randzonen der Vegetation. Grenzen haben eine starke psychologische Dimension, wenn zwei scheinbar unterschiedliche Einheiten einander berühren.

In Ihrem Buch «Achtung: die Landschaft» fordern Sie, die Grenze als Ort der Intervention wahrzunehmen, wo Architekten tatsächlich agieren können. Wie beschreiben Sie diese Grenzen? Sind sie scharf, oder verschwimmen sie?

JH: Es geht nicht darum, ob sie scharf oder unscharf sind: Grenzen sind immer Zonen. Sie können viele Dinge sein: physische Mauern oder vages Gelände, sichtbar oder unsichtbar. Wir haben Grenzgebiete zwischen Ländern beobachtet, in denen beide Seiten Müllberge angehäuft, Kläranlagen, Friedhöfe und andere unerwünschte Einrichtungen gebaut haben. Alles Dinge, die eine Distanz schaffen – eine Art «noli me tangere». Wir finden dies im Nahen Osten zwischen Ländern, die seit langem miteinander im Konflikt liegen, aber auch zwischen Ländern innerhalb Europas. Selbst im trinationalen Raum um Basel, wo Straßenbahn- und Eisenbahnlinien Grenzen überschreiten und Pendler zwischen ihren Wohnungen und Arbeitsplätzen in Frankreich, der Schweiz und Deutschland verkehren, sind die Grenzgebiete ein vernachlässigtes Thema. Deshalb begannen wir Ideen zu entwickeln, wie wir das ändern können. Nicht unbedingt als architektonisches Projekt, sondern eher mit sanften Eingriffen wie Bushaltestellen, Vegetation, neuen Wegen usw. Diese Interventionen sollten mit Namen versehen werden, damit die Grenze für beide Seiten eine greifbarere und zugänglichere Identität erhält.

Können wir den Begriff Grenze immer noch verwenden, wenn wir über die Dualität von Stadt und Land sprechen?

RK: Ich möchte mich wirklich dagegen wehren, mich wie ein Architekt zu verhalten. Für mich geht es absolut nicht darum, wie Architekten etwas zurückfordern oder sich selbst oder einen streng architektonischen Begriff neu positionieren können. Wenn die Situation passt, können wir bedeutende Dinge tun. Aber ich denke, für derartige Überlegungen ist der Kontext momentan denkbar ungünstig. Nehmen wir die Niederlande. Als ich jung war, gab es dort ein Ministerium, dessen einzige Funktion darin bestand, das Land räumlich zu ordnen; das wurde aufgegeben. Dasselbe beim Ministerium für Wohnungsbau. Man gab ganz einfach jedes politische Ordnungssystem preis.

Und wer regelt nun die räumliche Ordnung und den Wohnungsbau?

RK: Das ist die chaotische Situation, in der wir uns jetzt befinden: Wir alle müssen handeln. Natürlich können wir mit mehr oder weniger Intelligenz und mehr oder weniger Raffinement vorgehen, aber ich denke, das wirklich Entscheidende ist, dass wir versuchen, einen politischeren Rahmen für unsere Arbeit zu schaffen. Das ist nicht nur eine Aussage über die Welt in ihrer heutigen Form und darüber, was Architekten dazu beitragen könnten, sondern es ist auch die Situation, dass die Welt vor einer Art haarsträubendem Dilemma steht. Wir wissen im Wesentlichen, was getan werden muss, um das Dilemma zu lösen, aber wir haben die Institutionen oder Einrichtungen aufgegeben, die uns helfen können, mit diesem Dilemma umzugehen.

Rem Koolhaas, Sie waren lange Zeit ein Bewunderer der Großstadt, jetzt versuchen Sie, die Ansprüche der Stadt auf das Land in den Griff zu bekommen. Und umgekehrt haben Sie, Jacques Herzog, immer wieder gesagt, dass wir mehr Natur in der Stadt brauchen. Welche Untersuchung ist nun dringender, die Bewegung von der Stadt auf das Land oder umgekehrt?

RK: Würden Sie sich freuen, wenn wir uns hier als totale Gegensätze präsentierten?

Das nicht, mir erscheinen Ihre Forschungsansätze als komplementär.

RK: Wie gesagt, es gibt einen laufenden Prozess, bei dem das Land, wo heute noch die Hälfte der Menschheit lebt, in dreißig Jahren nur mehr halb so viele Bewohner wie heute haben wird. Das allein zeigt schon, dass es keine Frage des Bauens ist. Es geht darum, zu begreifen, worin die Rolle dieser Überbleibsel, wie Jacques sie nannte, besteht und was wir mit ihnen tun können. Natürlich ist diese Frage auch im Hinblick auf den Umgang mit der globalen Erwärmung von entscheidender Bedeutung. Wie können wir sicherstellen, dass wir bestimmte Teile der Landschaft sich selbst überlassen, damit sie wieder Natur werden und zur Überwindung der globalen Erwärmung beitragen können? Ich glaube nicht, dass es im Entferntesten eine Frage des Bauens ist; es ist eine reine Frage der Konzeptualisierung. Und es ist interessant, nach Afrika oder China zu schauen, wo fast jeder Städter auch einen Fuß im anderen Lager hat – man kann in der Stadt leben, aber aus einem ländlichen Hintergrund kommen. Ich denke, es wäre viel produktiver, wenn wir eine Situation entwickeln könnten, in der alle Bürger in irgendeiner Weise mit den beiden Umfeldern zu tun haben: mit der Stadt und mit dem Land. Für mich geht es letztlich um die Frage: Wie kann dieser größte Teil der Erdoberfläche auf andere Weise bewohnt werden

Brauchen wir neue Begriffe für Stadt und Land, wenn der Fokus so stark auf dem Bauen außerhalb der Stadtgrenzen liegt?

JH: Mir geht es weniger darum, wie dieses riesige Gebiet außerhalb der Städte bebaut wird, sondern vielmehr darum, dass es zunehmend von riesigen Anlagen und anderen Einrichtungen eingenommen wird, die scheinbar ohne definierte Kontrollmechanismen errichtet werden. Vielleicht teilen wir diese Sorge? Hast du, Rem, da vielleicht eine Art traurigen oder freudigen Pessimismus?

RK: Ich wollte in der derzeitigen Ausstellung ein paar Episoden zeigen, die eigentlich Anlass zu Optimismus sind, und andere, die ein Grund für Pessimismus sein könnten. Wir haben uns zum Beispiel sehr genau mit neuen Formen der Landwirtschaft beschäftigt und festgestellt, dass es eine starke Bewegung gibt, welche die Digitalisierung für eine verfeinerte und ökologischere Landwirtschaft nutzen will. Digitalisierung kann auf zwei radikal gegensätzliche Arten genutzt werden: zum einen auf eine missbräuchliche Weise, um der Erde das absolute Maximum auf Kosten des Planeten zu entziehen. Und die andere, die vorsichtig und subtil nach Möglichkeiten sucht, wie eine viel reichere Art der Landwirtschaft sowohl den Boden als auch die Ökologie erhalten könnte. Es ist nicht alles pessimistisch oder alles optimistisch, es gibt Beweise für beides. Wir versuchen einfach nur, den Reichtum und die Ratlosigkeit der gegenwärtigen Situation zu zeigen.

JH: Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion haben ein sehr interessantes Potenzial, wenn wir unsere Städte und die sie umgebenden Landschaften neu überdenken wollen. Im ETH-Studio Basel haben wir uns einige Semester lang mit diesem Thema beschäftigt und bestehende Landschaften rund um die Städte kartiert, um besser zu verstehen, wie viel und welche Art von Landwirtschaft – Vieh, Getreide, Früchte oder Gemüse – derzeit innerhalb eines bestimmten Radius betrieben wird. Wie viel fehlt für die Selbstversorgung, wie viel muss importiert werden? Ernährungsgewohnheiten wie der Fleischkonsum haben einen enormen Einfluss auf einen solchen Radius und auf die Art der Landschaft, die uns umgibt. Neue Methoden zur Herstellung von Lebensmitteln in Labors und Indoor-Plantagen entwickeln sich rasch. Das wird sich auf das Bild der Landschaft, aber auch auf die Gestalt unserer Städte auswirken. Dies ist ein weiterer Grund, warum wir die Städte nicht mehr in die Landschaft ausdehnen, sondern die Landschaft in unsere Städte bringen sollten.

Letztlich geht es also darum, die Welt zu retten. Wenn Sie dafür eine Formel erstellen müssen: Ist es ein besseres Verständnis der Technologie, das uns retten kann? Oder ist es ein höherer Sinn für Schönheit, der uns retten wird?

RK: Ich denke, beides. Es braucht Politik, Technologie, Sensibilität, künstlerische Initiativen, Landwirtschaft, Ackerbau . . . Es ist nichts Spezifisches, es ist die Kombination von alledem.

JH: Dem stimme ich zu. Ich möchte besonders die Wissenschaft hervorheben – ohne Wissenschaft können wir nicht überleben. Trotz den Fortschritten in der digitalen und biologischen Technologie gibt es paradoxerweise in den entwickelten Ländern ein wachsendes Misstrauen gegenüber der Wissenschaft. Ich denke jedoch, dass wir Wissenschaft und Technologie eine noch größere Rolle beimessen müssen, um Landschaften zu erhalten und auch zu verändern.

RK: Ja, das glaube ich auch. Es ist nicht die Künstlichkeit, die man in Holland oder in der Schweiz hervorheben sollte, auch der Beitrag der Wissenschaft sollte wahrgenommen werden. Unsere Ausstellung endet in einem Laboratorium in Deutschland, wo man der Realisierung der Fusion, einer alternativen Form der Kernenergie, immer näher kommt. Wir haben uns wirklich exponiert, indem wir auch die Bedeutung der Wissenschaft klar hervorhoben.

Neben Ihrem gemeinsamen Interesse an der Wissenschaft haben Sie beide während vieler Jahre Ihre Ferien im Engadin verbracht und dort Inspiration für Ihre jeweiligen Forschungen gefunden. Warum gerade das Engadin?

RK: Ja, ich hatte das Privileg, fünfzehn Jahre lang etwa dreimal jährlich im Engadin zu sein, und da ich ein so regelmäßiger Besucher war, konnte ich dort Unterschiede und Veränderungen besser erfassen als anderswo. Ich muss allerdings zugeben, dass ich die Schweiz zunächst als eine konstante Umgebung betrachtete, als einen Ort, der eben gerade nicht einem ständigen Wandel unterworfen ist, wie wir ihn im Westen Nordeuropas kennen. Aber dann begann ich langsam, aber sicher zu erkennen, dass die Schweiz sich unglaublich schnell verändert. Und deshalb war das Engadin ein schöner Ort, um diesen Wandel zu beobachten. In rund einem Viertel des Texts, den ich geschrieben habe, geht es um die Schweiz. [Anm. d. Red.: Dieser Viertel des Texts besteht ausschließlich aus Fragen.] Ja, das Engadin ist etwas, das wir gemeinsam haben, auch wenn ich Jacques dort nie besucht habe. Ich kenne nur den städtischen Jacques, den ländlichen Jacques habe ich nie besucht.

Jacques Herzog, wofür steht das Engadin aus Schweizer Sicht?

JH: Das Engadin ist ein interessantes Beispiel für meine Sorge um die Landschaft. Generell gibt es in der Schweiz zwei Arten von alpinen Gebieten. In unserer ETH-Forschung nannten wir die eine «Alpine Resort»: verwöhnte Regionen mit riesigen Investitionen in Immobilien wie das Engadin, Gstaad oder Zermatt, wo die Bodenpreise in den letzten dreißig Jahren exorbitant gestiegen sind. Der andere Typ, den wir das Brachland nennen, sind Dörfer und Landschaften, die von Investoren gemieden, von den Kantonsregierungen vernachlässigt und von der jungen Generation der lokalen Bevölkerung verlassen wurden. Als wir unser städtebauliches Porträt der Schweiz veröffentlichten, wurde die Kategorie «Brachland» zum Gegenstand heftiger Diskussionen unter Fachleuten und Politikern. Niemand wollte als Teil eines solchen Gebietes eingestuft werden. Heute könnte sich das wieder ändern. Als Folge der Pandemie haben kleine verlassene Dörfer eine Chance, als Wohn- und Arbeitsort reaktiviert zu werden, während Luxusresorts wie das Engadin unter den fehlenden Investitionen wohlhabender Ausländer leiden. Als Folge des Immobilienbooms, den Rem in seinen fünfzehn Jahren im Engadin erlebte, blähte sich die Gegend um St. Moritz zu einer Art Großstadt auf, um dann in den Monaten außerhalb der Saison wieder zu einem Dorf zu schrumpfen. Ein erbärmliches, hässliches Dorf mit geschlossenen Luxusgeschäften und leeren Restaurants.

Zum Schluss bitte zwei Statements: Sehen Sie Stadt und Land nun als Gegenspieler oder als symbiotische Systeme?

RK: Ich denke, dass es im Moment sehr produktiv wäre, sie in einem Bezugssystem zu sehen und nicht als Gegensätze. Es mag eine Zeit geben, in der dies wieder nützlich sein könnte, aber ich denke, dass es heute wirklich entscheidend ist, das Gesamtbild zu betrachten, anstatt auf einer Opposition aufzubauen.

JH: Da stimme ich zu, wir teilen dieses Konzept sicherlich. Aber wenn wir Stadt und Land – oder besser: die gebauten und die nicht bebauten Gebiete – nicht als Gegenspieler, sondern im gleichen Zusammenhang betrachten, dann sollten wir diesen beiden Gebieten auch die gleiche Aufmerksamkeit und Bedeutung für unser Überleben auf diesem Planeten einräumen. Wir können unsere Lebensbedingungen und auch das Leben in den Städten nur verbessern, wenn wir das Land weniger ausbeuten, stärker schützen und besser integrieren.

Dieses Gespräch fand im Juni 2020 im Rahmen der Dortmunder Architekturtage statt. Josef Paul Kleihues, Architekt und Direktor der IBA 1987 in Berlin, hat diese Veranstaltung 1975 ins Leben gerufen. Seit 2020 wird sie von Anna Jessen und Ingemar Vollenweider, den Nachfolgern auf dem Lehrstuhl Städtebau an der TU Dortmund, konzipiert. Das Spektrum der Positionen war diesmal bewusst breit angelegt und verfolgte die Absicht, auch die Wechselwirkungen zwischen Architektur, Politik und Gesellschaft abzubilden. Namhafte Referenten aus der Welt der Architektur fragten nach der Logik der Stadt, wenn die Vorgaben zu Dichte und Nähe sich im Zeichen von Klimawandel und Ressourcenknappheit wandeln und die Sehnsüchte der modernen Gesellschaft nach einem gesunden, ganzheitlichen Leben tief in die DNA der Architektur eingreifen.

Erstmals wurde das Symposium per Zoom ausgerichtet und ist abrufbar unter www.bauwesen.tu dortmund.de.

Parallele Karrieren

Jacques Herzog und Rem Koolhaas

Die Karrieren von Jacques Herzog (*1950) und Rem Koolhaas (*1944) zeigen vielerlei Gemeinsamkeiten auf: Beide haben für ihr gebautes Werk den Pritzkerpreis erhalten, direkt hintereinander in den Jahren 2000 und 2001. Dieser Preis wird für gestalterisch herausragende Architektur vergeben. Der Fokus der beiden weltweit erfolgreichen Gründer von Firmen mit mehreren hundert Angestellten geht aber weit über die Baukunst hinaus: Wiederum fast gleichzeitig haben beide große Forschungsinitiativen zu ländlichen Gebieten initiiert: Jacques Herzog und das ETH-Studio Basel publizierten 2015 das Buch mit dem Titel «Achtung: die Landschaft», Rem Koolhaas und AMO im Februar 2020 einen Begleitbericht zur Ausstellung «Countryside, The Future» im Guggenheim-Museum New York.

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