Hartwig Schultheiß (Stadtdirektor Münster und Vorstandsvorsitzender von StadtBauKultur NRW) und Hartmut Hoferichter (Stadtdirektor Solingen und Vorstand von StadtBauKultur NRW) sprechen im Interview über ihre Erfahrungen.
StadtBauKultur NRW:
Der Bürgermeister von Bergisch Gladbach, Lutz Urbach, hat im Interview mit der Tagesschau (www.tagesschau.de/inland/interview-fluechtlinge) prophezeit, dass das System kollabieren wird, weil die Kommunen die großen Herausforderungen bald nicht mehr bewältigen können. Teilen Sie seine Auffassung?
Hartwig Schultheiß:
Auch für Münster gilt, dass die Unterbringung der Flüchtlinge zu einer zunehmend großen Herausforderung wird. Bislang haben wir aber immer eine menschenwürdige Unterbringung sicherstellen können. Glücklicherweise stehen in Münster ehemalige Kasernengelände und eine größere Zahl ehemaliger Offiziershäuser der britischen Streitkräfte zur Verfügung, die von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) mietzinsfrei bereitgestellt werden. Ohne diese Immobilien wären hier womöglich auch schon Unterbringungen in Zelten erforderlich geworden. Es ist sicherlich eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung nötig, um auch weiterhin eine ausreichende Zahl an Unterbringungsmöglichkeiten zu erschließen und die Integration in die Stadtteile zu gewährleisten – von einer Überforderung möchte ich in diesem Zusammenhang aber noch nicht sprechen. Die rasant ansteigende Zahl der Flüchtlinge und die Unkalkulierbarkeit stellen allerdings eine große Herausforderung dar.
Hartmut Hoferichter:
Die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge ist auch in Solingen eine große Kraftanstrengung. Derzeit stehen dafür noch letzte eigene und einige angemietete Immobilien zur Verfügung, um angemessene Unterkünfte zu schaffen. Da Kasernen und andere Großimmobilien hier nicht vorhanden sind, betreiben wir eine intensive Akquise auf dem Wohnungsmarkt. Bei der Versorgung, Betreuung und Integration der Menschen gibt es eine große Unterstützung durch die Wohlfahrtsverbände. Eine ständig steigende Zahl von ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürgern und eine intensive Information durch die Stadt zeigen den Flüchtlingen, dass sie in Solingen willkommen sind. Ein erhebliches Problem bei allen Aktivitäten stellt die Tatsache dar, dass die Zuweisung und Verteilung der ankommenden Menschen oft sehr kurzfristig erfolgt und vorsorgende Maßnahmen in keiner Weise planbar sind.
StadtBauKultur NRW:
Angela Merkel hat kürzlich auf einem Bürgerdialog in Duisburg gesagt, dass die deutsche Container-Industrie im Dreischichtbetrieb arbeiten würde. Aber es war nicht klar, ob Merkel die Leistungsfähigkeit der Container-Industrie ansprechen wollte oder deren Überforderung. Wie leicht ist es in der Realität an Container oder andere behelfsmäßige Unterbringungen zu kommen?
Hartmut Hoferichter:
Durch frühzeitige Bestellung stehen uns einige wenige Container noch im Herbst zur Verfügung. Weitere Lieferungen sind in der Tat erst im Februar oder März möglich. Um Zeltunterbringungen oder die Nutzung von Turnhallen zu vermeiden, wird die Stadt Solingen u. a. auf ein Angebot von mobilen und winterfesten Leichtbauten zugreifen, um für erwartete umfangreichere Erstaufnahmen Vorsorge zu treffen.
Hartwig Schultheiß:
Es ist derzeit in der Tat schwierig, Wohn- oder auch Sanitärcontainer zu erhalten. Die Lieferzeit für Wohncontainer beträgt aktuell etwa 35 – 40 Wochen. Die Stadt Münster wird daher auch an verschiedenen Standorten auf alternative Lösungen wie Einrichtungen in Holzrahmenbauweise zurückgreifen, die etwas schneller zu realisieren sind.
StadtBauKultur NRW:
In Deutschland stehen 3,5 Millionen Wohnungen leer. Warum ist es so schwierig, solche Wohnungen für die Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen?
Hartwig Schultheiß:
In Münster ist ein solcher Leerstand nicht zu verzeichnen, im Gegenteil. Münster ist eine wachsende Stadt, in der eine hohe Wohnraumnachfrage besteht.
Hartmut Hoferichter:
Solingen wächst zwar auch wieder leicht, es gibt aber noch einen Wohnungsleerstand von 3-4 Prozent. Wir haben daher schon vor Wochen eine umfangreiche Werbe- und Informationskampagne mit dem Eigentümerverband „Haus und Grund“ und großen Wohnungsgesellschaften gestartet, um Wohnungen durch die Stadt anzumieten. Dabei gilt es durchaus auch Vorbehalte der Vermieter bezüglich der künftigen Bewohner, der Sicherheit der Mietzahlungen oder der Dauer von Mietverhältnissen auszuräumen. Mittlerweile sind auf diesem Wege aber bereits ca. 250 Wohnungen angeboten worden.
StadtBauKultur NRW:
Wenn Flüchtlinge in Deutschland ankommen, werden sie nach einem bestimmten Schlüssel über das Bundesgebiet verteilt. Dass die IT-Anwendung für diesen Verteilungsschlüssel den Namen EASY trägt (Erstverteilung von Asylbegehrenden), klingt angesichts der aktuellen Situation eher zynisch. Eine besondere Last tragen die großen Kommunen, während kleine Gemeinden verschont bleiben. Ist dieser Verteilungsschlüssel sinnvoll?
Hartwig Schultheiß:
Die Verteilung der Flüchtlinge vom Bund auf die Länder erfolgt anhand des sogenannten Königsteiner Schlüssels. In NRW ist der jeweilige Einwohner- und Flächenanteil der Gemeinde entscheidend für die Höhe der Zuweisungen. Bevölkerungsstarke Kommunen müssen also auch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Dies ist insofern sinnvoll, als dass die Relation zwischen zuziehenden Flüchtlingen und bereits in der Kommune lebenden Einwohnerinnen und Einwohnern vergleichbar bleibt. Und die Oberzentren sind natürlich auch eher in der Lage, die erforderliche Infrastruktur zur Betreuung und Versorgung der Flüchtlinge bereitzustellen. Dazu gehören z.B. auch Kitas und Schulen. Mit Blick auf den erwähnten Leerstand ist es in der Tat opportun, diesbezüglich über den Verteilerschlüssel neu nachzudenken. Allerdings ist es nicht damit getan, den Flüchtlingen leerstehende Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Aus meiner Sicht sollten auch die damit verbundenen Chancen ausgelotet werden, entleerte Regionen und Stadtteile neu zu beleben und bestehende Infrastruktur wieder zu nutzen.
Hartmut Hoferichter:
In der aktuellen Situation ist die Verteilung der ankommenden Menschen nach dem Königsteiner Schlüssel, ergänzt um die Kriterien Flächen- und Einwohneranteile, eine vertretbare Lösung. Mit einem vernünftigen Verhältnis zwischen Einwohnern vor Ort und zuziehenden Flüchtlingen gelingen Versorgung und Integration deutlich besser. Die Idee , in schrumpfenden Regionen reichlicher vorhandenen und ordentlich erhaltenen Wohnraum zu nutzen, ist grundsätzlich richtig, braucht aber einen erheblichen zeitlichen Vorlauf und umfangreiche Unterstützung, damit die Integration der Menschen an diesen Standorten gelingen kann.
StadtBauKultur NRW:
Der Gesetzgeber hat Ende des letzten Jahres Erleichterungen zur Unterbringung von Flüchtlingen im Bauplanungsrecht vorgesehen. Seitdem ist es möglich, Flüchtlinge auch dort unterzubringen, wo das Planungsrecht eigentlich keine Wohnnutzung vorsieht, zum Beispiel in Gewerbegebieten. Diese Maßnahmen zielen auf eine kurzfristige Entlastung der Kommunen. Aber für diejenigen, die Bleiberecht in Deutschland erhalten, kann das keine Lösung auf Dauer sein. Wie müsste eine langfristige Lösung aussehen, damit Neuankömmlinge angemessen und konfliktfrei in unsere Städte integriert werden können?
Hartwig Schultheiß:
Die gesetzlichen Änderungen zielen darauf, die Kommunen in die Lage zu versetzen, kurzfristig zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten zu erschließen. Die Stadt Münster hat bislang noch keine Einrichtungen in Gewerbegebieten o.ä. untergebracht, muss aber natürlich auch alle in Frage kommenden Standorte prüfen. Hier geht es insbesondere darum, die Unterbringungskapazitäten zu erhöhen, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Selbstverständlich muss es das Ziel bleiben, die Menschen langfristig in gut integrierten Standorten mit entsprechender Infrastruktur unterzubringen. In Münster erfolgt die Aufnahme der Neuankömmlinge in einer städtischen Erstaufnahmeeinrichtung. Von hier aus werden die Menschen nach einer Perspektivklärung auf Einrichtungen im Stadtgebiet verteilt.
Hartmut Hoferichter:
Die planungsrechtlichen Erleichterungen sind für die temporäre Unterbringung von Menschen schon hilfreich. In Solingen wird es so z.B. möglich, ein vorübergehend ungenutztes Bürogebäude im Gewerbegebiet, das gut zugeschnitten und auch für die Versorgung gut ausgestattet ist, eine Zeit lang als Unterkunft zu nutzen oder die Nutzung von Betriebswohnungen noch auszuweiten. Langfristige Lösungen verfolgen wir dadurch, dass wir parallel zur Anmietung von Wohnungen auch Investoren für den Bau von Wohnungen ansprechen und in Sachen Förderung beraten, um den Bestand an geeignetem preiswertem Wohnraum möglichst bald an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet zu vergrößern. Dabei ist uns wichtig, dass hier keine so genannten Schlichtwohnungen entstehen, sondern ein nachhaltiger Wohnungsbau mit entsprechendem Wohnumfeld.