Der ländliche Raum im Diskurs – Buchrezension III
von Paul Andreas
Nach einer jüngsten Studie des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung (BBSR) wird Deutschland in den nächsten 20 Jahren ein starkes Wachstumsgefälle zwischen den Regionen erleben: Dem jungen, dynamisch wachsenden Deutschland der Metropolräume wird zunehmend ein ländlich geprägtes Deutschland gegenüberstehen, das in seinen Bevölkerungszahlen stagniert oder dem gar demografisch und wirtschaftlich völlig die Luft ausgeht. Rund die Hälfte der Kreise wird bis 2040 kein Wachstum seiner Bevölkerung mehr und zudem eine zunehmende Überalterung seiner Bevölkerung erleben. Die Umverteilungen von Haushaltsmitteln zwischen den Metropolen und ländlichen Regionen dürften damit in Zukunft noch deutlich weiter steigen – manche Experten meinen bis zur Belastungsgrenze und sehen angesichts des Bedeutungsverlustes von Volksparteien und dem Erstarken von rechten Protestparteien die Gefahr von wachsenden politischen Stadt-Land-Konflikten. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie die ländlichen Regionen sich in Zukunft aufstellen – kurzum wie in ihnen gelebt, gewirtschaftet und gewohnt werden muss.
Drei aktuelle Publikationen legen ihren Fokus auf das Land und seine Zukunftsherausforderungen – mit teils ganz unterschiedlichen Analysen und Antworten.
Christian Krajewski/ Claus-Christian Wiegandt: Land in Sicht. Ländliche Räume in Deutschland zwischen Prosperität und Peripherisierung (bpb Bundeszentrale für Politische Bildung, Band 10362, 410 S., ISBN 978-3-7425-0362-6, gratis auf Bestellung), https://www.bpb.de
Für die 37 Autoren des Sammelbands „Land in Sicht“, der bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen ist, bietet das Land keinen Raum mehr für Romantisierungen: Das Land als Gegenbegriff zur Stadt existiert für die zu Wort kommenden Geografen, Raum-, Regional- und Stadtplaner, Sozial- und Politikwissenschaftler ebenso wenig wie ein typischer ländlicher Lebensstil oder besondere ländliche Werte. Die Unterschiede im Hinblick auf wirtschaftliche Prosperität, infrastruktureller und sozialer Ausstattung sind innerhalb der ländlichen und städtischen Räume mittlerweile deutlich stärker ausgeprägt als zwischen den historischen Raumkategorien von Stadt und Land. Gewinnerregionen können sowohl städtisch (München, Ingolstadt) als auch ländlich geprägt sein (Oldenburg, Emsland) – wirtschaftlich geschwächte, massiv von Schrumpfung bedrohte Standorte liegen heute sowohl in den früheren urbanen Industrieregionen (Ruhrgebiet) wie in den sogenannten peripheren ländlichen Gebieten (Teile Brandenburgs und Sachsen-Anhalts).
Auch die Raumordnungspolitik und amtliche Raumforschung trägt diesem Zusammenhang Rechnung, indem sie seit 1995 die „Heterogenität ländlicher Räume“ betont. Die erst in den 1970er-Jahren in den raumordnungspolitischen Diskurs in Deutschland eingeführte, seit 1989 im Raumordnungsgesetz verankerte Leitvorstellung einer „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ bildet dafür den Hintergrund: Der Auftrag – so jedenfalls, wie er heute gemeinhin in den Raumwissenschaften verstanden wird – richtet sich gegen alle Ungerechtigkeiten, die aus räumlichen Differenzierungen erwachsen – im weitesten Sinne von faktischen infrastrukturellen und ökonomischen Benachteiligungen bis hin zu daraus resultierenden Stigmatisierungen der Menschen vor Ort.
Der Band „Land in Sicht“ geht dezidiert auf das polare Spannungsverhältnis ländlicher Räume ein, das sich in Deutschland zwischen entlegenen strukturschwachen Peripherien und den prosperierenden ländlichen Gemeinden. Besonders ausführlich wird dabei auf die Bedeutung der Klein- und Mittelstädte eingegangen: Nicht die Dörfer, die gemeinhin mit dem Land assoziiert werden und in der Vergangenheit durch entsprechende Programme gefördert wurden, sondern die städtischen Mittel- und Grundzentren dürften in Zukunft das größte Potenzial haben, die umliegenden ländlichen, demografisch zunehmend schrumpfenden Räume zu stabilisieren und weiterentwickeln. Als „Ankerpunkte in der Fläche“ sorgen sie einerseits dafür, dass das ländliche Umland Zugang zu allen Funktionen der Daseinsvorsorge hat. Das qualifiziert sie anderseits dafür (viel mehr als die Dörfer), konkurrenzfähiger Anziehungspunkt für neue Zuwanderer aus zunehmend überlasteten urbanen Regionen zu sein – vorausgesetzt, dass sie ihre Standortvorteile auch entsprechend in die Waagschale werfen und weiterentwickeln: Nicht die Kopie oder Imitation der Großstadt muss dabei das Ziel sein, sondern die eigene Positionierung, die auf die Vorteile von bezahlbarem Wohnraum, Begegnungsmöglichkeiten, Ernährungssouveränität, Nahnatur und auf die im Vergleich zu Großstadt größeren Wirkungsspielräume durch persönliches Engagement in Politik und Kultur referiert. Die Attraktivität dieser Anker- und Provinzstädte im besten Wortsinne, steigert sich weiter, wenn entsprechende mit der Großstadt konkurrenzfähige Wohn- (z.B. das Einfamilienhaus zur Miete, aber auch zeitgemäße urbane Grundrisse), Freizeit- und über den Individualverkehr hinausgehende Mobilitätsangebote geschaffen werden. Auch die Innenstädte sollten dabei eine solche Transformation erfahren, dass sie baukulturell aufgewertet werden sowohl durch gestalterische als auch für Partizipation offene Prozessverfahren. Auch wenn eine systematische wissenschaftliche Theorie bisher Desiderat der Forschung ist: Durch den Zuspruch, den die Klein- und Mittelstädtestädte erfahren – immerhin würden nach einer Umfrage des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung (BBSR) von 2010 allein 22 % der Deutschen am liebsten in einer mittelgroßen Stadt, 26 % sogar in einer Kleinstadt wohnen – würden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Skalierungseffekte für das von Schrumpfungsprozessen gezeichnete ländliche Umland ergeben. Prosperierende Klein- und Mittelstädte sind zudem oft auch Aktionsfeld der in Deutschland besonders auf dem Lande reichhaltig gesäten, sogenannten „Hidden Champions“-Unternehmen: Allein 40 % der 1700 deutschen mittelständischen Weltmarktführer sind in Kleinstädten und ländlichen Gemeinden beheimatet und setzen dort mehr als nur wirtschaftliche Impulse. Gerade in peripheren ländlichen Räumen definieren sie nicht allein die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Spielräume in Bezug auf Beschäftigung, Kaufkraft, Steueraufkommen, fachlich qualifizierte Arbeitnehmer und Arbeitslosigkeit. Sie übernehmen auch– sofern sie inhabergeführt und/oder Ortsverbunde sind – auch Verantwortung für die lokale Bildung (z.B. Azubis), Soziales (Vereine) und die Kultur. Das privatwirtschaftliche Engagement für die Daseinsvorsorge ländlicher Regionen ist bisher wenig erforscht, müsste in Zukunft aber in der Regional- und Wirtschaftspolitik und den oft einseitig auf die Metropolräume fokussierten Innovationsförderungen sicher viel stärker Berücksichtigung finden.
Bis heute besteht kein verbindlicher Rechtsanspruch für Gemeinden, dass ihre Funktion als Grund-, Mittel- oder Oberzentrum mit einer entsprechenden Mindestausstattung an Einrichtungen und Infrastrukturen für die Daseinsvorsorge der lokalen Bevölkerung gewürdigt wird. Die angestrebte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse – sie findet ihre Grenzen spätestens bei der Umverteilung der kommunalen Finanzmittel. Aber auch bei der Erfüllung der Daseinsvorsorge hat sich der Staat, der sich in den letzten 30 Jahren immer mehr vom ordnungshoheitlichen Wohlfahrtsstaat zum vermittelnden Gewährleistungsstaat gewandelt hat, weitestgehend unsichtbar gemacht – was dazu führt, dass besonders in demografisch schrumpfenden ländlichen Gemeinden die Notwendigkeit von Bürgerengagement bei der Sicherung von Teilen der Daseinsvorsorge unverzichtbar geworden ist. Gerade in diesen dünn besiedelten Gebieten sollte es dabei nicht so sehr um das Reklamieren bestimmter Ausstattungsstandards gehen, sondern um eine wirkungs- („outcome“)-orientierte Daseinsvorsorge, die ausreichend flexibel ist und auf integrierte interkommunale Kooperationen (z.B. bei Müll- und Abwasserentsorgung oder Stromversorgung etc.) setzt.
„Land in Sicht“ beschreibt die Herausforderungen der Daseinsvorsorge anhand verschiedener Felder –der Gesundheitsversorgung, der Bildung, der infrastrukturellen Versorgung mit Energie, Wasser und Breitband und einer neuen, deutlich weniger vom motorisierten Individualverkehr abhängigen Mobilität. Noch bis vor Kurzem wurde die Digitalisierung nicht zu den Kernaufgaben der Daseinsvorsorge gezählt, entsprechend wurde sie privatwirtschaftlichen Akteuren überlassen, die sich allerdings nicht für die wenig rentablen ländlichen Gebiete interessierten. Seitdem nimmt die öffentliche Hand die Verbreitung des Breitbandnetzes in der Fläche stärker in den Fokus und es hat in den letzten Jahren eine Reihe von Best-Practice-Modellvorhaben gegeben – sei es etwa zu regional begrenzten Gütertransportbörsen, teleärztlicher Versorgung oder auch appgesteuerten ländlichen Fahrgemeinschaften. Was allerdings fehlt, sind unabhängige Evaluationen, die aus Einzelprojekten Schlüsse für größere Vorhaben ziehen bis hin zu übergreifenden Masterplänen. Dabei genügt es nicht, allein die Technologie anzubieten - die öffentliche Hand muss auch Anreize streuen, dass es tatsächlich zur beharrlichen Umsetzung von digitalen Konzepten für Einzelbereiche kommt, mit der sich Schrumpfungsprozesse der sozialen, kulturellen und der mobilen Verkehrsinfrastruktur abfedern lassen. Der Markt, der sich bei Implementierung von Innovationen primär an den zu erwartenden Erträgen orientiert, wird das allein nicht richten. Denn die alte Regel der Infrastruktur bleibt auch bei der Digitalisierung in Kraft: Das Land profitiert – die Stadt profitiert (aufgrund ihrer dichten, an einem Ort konzentrierten Bevölkerungsmehrheit) aber weitaus mehr.
Anders als bei der Digitalisierung bietet gerade das Land für die Mobilität mit autonom fahrenden Bussen ein ideales „Testing Field“: Wegen der geringen Verkehrsdichte, wenigen Kreuzungen und einem wenig komplexen Straßennetz passt dieses Fortbewegungsmittel eigentlich perfekt in die ländliche Struktur. Es könnte nicht nur den ÖPNV revolutionieren, einmal konsequent eingeführt könnte es auch das Verkehrsaufkommen in den Dörfern deutlich beruhigen und die vorhandenen, oft durch den Durchgangsverkehr getrübten öffentlichen Orte wieder durch Fußgängerfreundlichkeit aufwerten. Die Umsetzung der Verkehrswende auf dem Individualverkehr abhängigen Land – sie scheint auch kein totales Ding der Unmöglichkeit zu sein: So ließen sich kurzfristig mehr intelligente, app-gesteuerte Mitfahrsysteme installieren, die die Ausnutzung von privaten PKWS stärken. In mittelfristiger Perspektive müssen die geringe Siedlungs-, Nachfrage- und Angebotsdichte, die die Rahmenbedingungen des ÖPNV heute dort prägen, durch den Aufbau eines hocheffizienten Stadt- und Ortsbusssystems aufgelöst werden. Von den Klein- und Mittelstädten ausgehend in die ländliche Umgebung ausstrahlend, müsste ein Linien- und Landbusnetz installiert werden, dass kundenfokussiert mit einem dichten Haltestellen- und engen Zeittaktsystem operiert. Für eine Gemeinde von 10.000 Einwohner mit 60 Haltestellen, die im Takt von 20-30 Minuten angefahren werden, ließen sich - so die Kalkulationen von Verkehrswissenschaftlern - rund 1 Millionen Fahrgäste jährlich generieren. Wie in Skandinavien schon heute praktiziert, könnte ein Kombibus neben dem Personentransport auch den Transport von regionalem Stückgut mit übernehmen und den Waren- und Güterverkehr entlasten.
Zahlreiche Pilotprojekte im Bereich ländlicher Mobilität führen vor, dass flexible, dezentral organisierte Konzepte für Mehrfach- und Mehrzwecknutzungen von öffentlichen Verkehrsmitteln durchaus effizient sind, weil sie sich nicht an den gängigen kostentreibenden Standards für Mindestgrößen von Gemeinden etc. orientieren. Eine systematische Berücksichtigung dieser durchaus vielfältigen Erfahrungen ist bei den Rahmensetzungen in Bund und Ländern bis heute allerdings unterblieben. So erscheint auch die Mobilität im Lichte eines allgemeinen Defizits, auf das die Autoren von „Land in Sicht“ immer wieder hinweisen: In der ländlichen Strukturpolitik mangelt es an Evaluierung, an notwendigen Skalierungen und letztlich auch an einer entsprechenden Neuorientierung und stärkeren Fokussierung von Fördermitteln, die zu lange – gewiss auch mit einem gewissen politischen Automatismus – in die Metropolräume geflossen sind.