Der ländliche Raum im Diskurs – Buchrezension I
von Paul Andreas
Nach einer jüngsten Studie des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung (BBSR) wird Deutschland in den nächsten 20 Jahren ein starkes Wachstumsgefälle zwischen den Regionen erleben: Dem jungen, dynamisch wachsenden Deutschland der Metropolräume wird zunehmend ein ländlich geprägtes Deutschland gegenüberstehen, das in seinen Bevölkerungszahlen stagniert oder dem gar demografisch und wirtschaftlich völlig die Luft ausgeht. Rund die Hälfte der Kreise wird bis 2040 kein Wachstum seiner Bevölkerung mehr und zudem eine zunehmende Überalterung seiner Bevölkerung erleben. Die Umverteilungen von Haushaltsmitteln zwischen den Metropolen und ländlichen Regionen dürften damit in Zukunft noch deutlich weiter steigen – manche Experten meinen bis zur Belastungsgrenze und sehen angesichts des Bedeutungsverlustes von Volksparteien und dem Erstarken von rechten Protestparteien die Gefahr von wachsenden politischen Stadt-Land-Konflikten. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie die ländlichen Regionen sich in Zukunft aufstellen – kurzum wie in ihnen gelebt, gewirtschaftet und gewohnt werden muss.
Drei aktuelle Publikationen legen ihren Fokus auf das Land und seine Zukunftsherausforderungen – mit teils ganz unterschiedlichen Analysen und Antworten.
AMO/ Rem Koolhaas: Countryside – a Report (Ausstellungskatalog, in englischer Sprache, Taschen Verlag, 2020, 352 S., ISBN 978-3-8365-8439-5, 20,- EUR), www.taschen.com
Als ein ignoriertes Reich („an ignored realm“) beschreibt Rem Koolhaas (RK), niederländischer Architekt und bis dato einer der großen Apologeten urbaner Dichte, die aktuelle Perspektive auf das Land. Was 50 Mal mehr Fläche besitzt als alle Städte dieser Erde zusammen, ist seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Ende der Ideologien zunehmend zur terra incognita geworden: Der vermeintliche, nicht zuletzt ökologisch zweifelhafte Erfolg der globalen Marktökonomie und der damit einhergegangenen einseitigen Fokussierung auf die Stadt, hat in der Wahrnehmung einen blinden Fleck auf der Weltkarte kreiert: Mehr denn je fehle es an einer Definition des Landes im Verhältnis zur Stadt, und - damit verbunden – auch an Projektionen und Zukunftsvisionen. „Countryside – a report“ – der Band zur Ausstellung, die 2020 unter Pandemie-Einschränkungen kurzzeitig im New Yorker Guggenheim-Museum gezeigt wurde - ist die Bilanz einer Reise, die Koolhaas‘ Recherche-Task-Force AMO über Kontinente, durch fast vergessene „Land-Ideologien“ und zu neuen innovativen Agrar-Technologien führt. Zusammen sollen sie – so jedenfalls der Anspruch - ein erstes „Puzzlebild“ dessen ergeben, wofür global das Land heute steht. Gegen den Trend, in der „countryside“ nur noch eine Projektionsfläche arkadischer Sehnsüchte stressgeplagter Städter zu sehen, sichern RK und sein interdisziplinäres Team „Beweise des Fortschritts“ auf dem Land, verschweigen aber auch nicht die Alarmsignale, die allein auch Städter aus ihren Landlust-Träumen reißen müssten.
In dem kleinen, von Irma Boom gestalteten Pocket-Buch wimmelt es nur so von Roadmovie-artig komponierten Reiseberichten: Es geht um von Flüchtlingen revitalisierte Dörfer – temporär in Manheim unweit des vermutlich für immer vertagten Tagebaus Hambacher Forst, aber auch in Kalabrien, wo es für Flüchtlinge längerfristige Bleibeperspektiven gibt. Es geht durch Chinas Countryside, die unter dem Einfluss des letzten Land-fokussierten Fünfjahresplanes zum Standort von 4.000 taobao-Online-Möbel-Manufakturen, aber auch gewaltigen, horizontal ausgedehnten Greenhouse-Plantagen mit angeschlossenen vertikalen Highrise-Wohnvierteln geworden ist. Ein Dialog mit kenianischen Stadtplanern und Architekten über die fortdauernde Attraktivität des Landes schließt sich da direkt an: Vor allem das ambivalente Investment in die Schienen-Verkehrsinfrastruktur des ostafrikanischen Landes, das die Abhängigkeit von China festschreibt, aber auch das bis in abgelegenste Provinzwinkel nutzbare Bezahlnetzwerk M-Pesa halten die Bewohner auf dem Land – ganz anders als die Vereinten Nationen 2007 den Trend insbesondere für Afrika vorausgesagt haben: Die forcierte Urbanisierung der Welt – zumindest in Afrika schreitet sie merklich langsamer voran als prognostiziert.
Überhaupt scheint dem Buch die These zugrunde zu liegen, dass Land und Stadt keine dialektische Beziehung mehr unterhalten, sondern in einem relativ homogenen Raum-Zeit-Kontinuum stehen: Mit einiger Ernüchterung werden in der Wüste von Nevada die letzten Outsider-, Aussteiger-und Hippie-Communities wie Slab City und Arcosanti besucht, die sich bei ihrer Gründung noch als explizit „Off-the-Grid“ verstanden, ihren autonomen Zauber aber längst verloren haben oder dabei sind, ihn zu verspielen. Die infrastrukturelle Erschließung des Landes macht es zugleich möglich, dass an landschaftlich sublimen Orten wie der Berglandschaft des Truckee-Rivers eine neue, wildwüchsige Form des Businessparks entsteht: Das Tahoe Reno Industrial Center im Grenzland der US-Staaten Kalifornien und Nevada umfasst mehr als 30.000 Hektar Ranch-Weideland: Neben Wildpferden und Rindern tummeln sich hier Teslas Gigafactory, Standorte von Google, Blockchain und Walmart. Die gleichförmigen, neutral weißen XXL-Boxen, deren Gestaltung allein Codes, Algorithmen und der Performance unterliegt (so wie die Arbeit im Inneren überwiegend von AI gesteuerten Robotern erledigt wird), passen in ihren ausgedehnten Dimensionen in keinen herkömmlichen Stadtgrundriss mehr. Ihre architektonische Absichtslosigkeit begründet für RK den „degree zero“ einer neuartigen, posthumanen Architektur, wie sie nur auf dem horizontal ausgedehnten Land möglich werden kann.
Ein wichtiger Themenschwerpunkt von „Countryside – a report“ bildet die Landwirtschaft, die wie in North Dakota längst industrielle Formen angenommen hat – dank Satelliten- und Sensoren gesteuertem „Precision Farming“ und vollautomatisiert organisierten Agrartechparks. Dass dabei das Land mehr und mehr weltweit zur monokulturellen, hochgradig künstlichen Agrarwüste wird, ruft zunehmend Gegenbewegungen hervor: Zu den etablierten Strategien der regenerativen Biolandwirtschaft gesellt sich in jüngster Zeit dabei das „Pixel Farming“, das an der niederländischen Wageningen Universität empirisch entwickelt wird. Auf kleinstem (Pixel-)Raum werden dort Pflanzen in ökologisch erprobten und optimierten Minimalkombinationen ausgesät, um nicht nur ausreichende Erträge, sondern auch funktionieren Ökosysteme zu kultivieren, die Biodiversität für Pflanzen und Insekten und mitunter auch eine ganz andere Form der mosaikartigen Landschaftsästhetik erzeugen. Bisher geschieht das noch in mühsamer Handarbeit – aber die Entwicklungen für eine ausreichend feinmaschige, digital gesteuerte Automatisierung haben längst begonnen. Genauso so fragmentarisch wie „Countryside – a report“ Themen anschneidet, ohne dabei die Absicht einer übergeordneten Einordnung zu verfolgen, endet es auch: In einem 28-seitigen (!) Fragenkatalog schreiben sich die Autoren ihre offenen Fragen aus dem Kopf, eher assoziativ als in klaren Gedankenlinien – eine etwas sperrige wie gut gemeinte Einladung an alle, die Fäden, die aufs Land führen, aufzunehmen und selbst weiter zu spinnen.