Der ländliche Raum im Diskurs – Buchrezension II
von Paul Andreas
Nach einer jüngsten Studie des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung (BBSR) wird Deutschland in den nächsten 20 Jahren ein starkes Wachstumsgefälle zwischen den Regionen erleben: Dem jungen, dynamisch wachsenden Deutschland der Metropolräume wird zunehmend ein ländlich geprägtes Deutschland gegenüberstehen, das in seinen Bevölkerungszahlen stagniert oder dem gar demografisch und wirtschaftlich völlig die Luft ausgeht. Rund die Hälfte der Kreise wird bis 2040 kein Wachstum seiner Bevölkerung mehr und zudem eine zunehmende Überalterung seiner Bevölkerung erleben. Die Umverteilungen von Haushaltsmitteln zwischen den Metropolen und ländlichen Regionen dürften damit in Zukunft noch deutlich weiter steigen – manche Experten meinen bis zur Belastungsgrenze und sehen angesichts des Bedeutungsverlustes von Volksparteien und dem Erstarken von rechten Protestparteien die Gefahr von wachsenden politischen Stadt-Land-Konflikten. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie die ländlichen Regionen sich in Zukunft aufstellen – kurzum wie in ihnen gelebt, gewirtschaftet und gewohnt werden muss.
Drei aktuelle Publikationen legen ihren Fokus auf das Land und seine Zukunftsherausforderungen – mit teils ganz unterschiedlichen Analysen und Antworten.
Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform (C.H. Beck, 2020, 302 S., 978-3-406-74825-7, 26,- EUR, eBook: 19,- EUR), www.chbeck.de
Ist das Land angesichts der Konzentration auf die Städte und die weltweiten Entwicklungen der Urbanisierung noch zu halten und zu retten? Wodurch zeichnet sich das Leben auf dem Land aber eigentlich heute noch aus? Ist es nur noch als ein Ergänzungsraum für Städte zu gebrauchen, als ein entschleunigter Freizeit-, Natur und Wohnpendelraum? Oder kann es – allen demografischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zum Trotz – noch eine Zukunftsperspektive für das Landleben als ein gleichwertiger und doch spezifischer, die Stadt komplementär ergänzender Wirtschafts- und Lebensraum geben – und wenn ja, unter welchen genauen Bedingungen? Das sind die zentralen Fragen, denen Werner Bätzing, emeritierter Professor für Kulturgeografie, in seiner neusten resümierenden Publikation nachgeht, die sich nicht primär an die Fachkollegen richtet, sondern ein „Orientierungswissen“ für jedermann schaffen möchte.
In einem fundierten historischen Überblick über 12.000 Jahre Kulturgeschichte zeichnet Bätzing die Entstehung und Entwicklung der Dialektik von Stadt und Land nach. Schon in den frühen Hochkulturen bildete sich diese als eine komplementäre Beziehung heraus von einerseits kaum spezialisierten, ökologisch nachhaltig wirtschaftenden Bauerngesellschaften, die die Städte ernährten, andererseits von zunehmend arbeitsteilig agierenden, funktional spezialisierten Stadtbevölkerungen, die militärischen Schutz und Märkte für den Warenaustausch boten. Auch wenn schon früh Vorurteile und Stigmatisierungen über das Land in Mode kamen, war diese Beziehung doch keineswegs immer zu dessen Nachteil festgeschrieben. Besonders nach dem Aufblühen des Landes im europäischen Mittelalter war es bis in die Frühzeit der Industriellen Revolution durchaus ein Ort mit Innovationskraft: Die wasserkraftbetriebene Verarbeitung und Produktion mit all ihren Wassermühlen und Manufakturen siedelte sich vorzugsweise auf dem Land an. Erst der Systemwechsel in das fossile Zeitalter löste die Industrie vom Land ab und konzentrierte den Motor technischer wie gesellschaftlicher und kultureller Innovationen sukzessive in die Städte und ließ das Land abgeschlagen in der Entwicklung und Wahrnehmung hinter sich. Die eigentliche Entwertung hat der ländliche Raum – so Bätzing – allerdings erst durch den Strukturwandel der Nachkriegszeit seit 1960 erfahren. Nicht nur dass sich durch eine systematische Rationalisierung der Landwirtschaft und die Abwanderung der produzierenden Wirtschaft in die Zentren die Zahl der Arbeitsplätze auf dem Land extrem reduziert hätte – in Ost- und Westdeutschland in 70 Jahren um mehr als 50 Prozent! Vor allem ausgelöst durch die Massenmotorisierung und die Mobilität des Individualverkehrs hat auch die Qualität des Landlebens sich grundlegend verändert: Aus vorher eigenständigen Gemeinden, an denen Wohn- und Arbeitsort weitestgehend lokal miteinander verknüpft waren, sind überwiegend Auspendlergemeinden geworden, so dass weite Teile des Landes heute nur noch als Wohnstätte dienen. Aus einem ganzheitlichen Lebenszusammenhang hat sich das Landleben dabei immer weiter zu einer fragmentierten, allein durch den Individualverkehr verbundenen „Teilraum-Erfahrung“ entwickelt. Dabei hat sich die Flächennutzung zugleich immer weiter monofunktionalisiert: Im Anschluss an Thomas Sieverts Analyse der „Zwischenstadt“ in den suburbanen Zonen prägt Bätzing den Begriff des „Zwischenstadt-Landes“: Ob die Intensivierung der Landwirtschaft und die damit einhergehende Umwandlung einst mischkulturell genutzter Ackerflächen in monokulturell bewirtschaftete „Agrarwüsten“ einerseits und die nur vermeintlich biodiverse Verödung und Verbuschung brach liegender Flachen andererseits; ob die demografische Ausdünnung und Verkümmerung von Dorfkernen und die ambivalente Konjunktur neuer Siedlungs- und Gewerbegebieten außerhalb der Ortschaften - auf einer Vielzahl von Ebenen spielt sich das Landleben nicht mehr auf dem Land im tradierten Sinne, sondern einem monofunktional programmierten „Zwischenstadtland“, das allein auf einseitigen zweckrationalen Erwägungen beruht und dabei die historisch gewachsene Kulturlandschaft und die darin verkörperte kulturelle Identität weitgehend ignoriert.
Auch wenn es in Westdeutschland nie an Initiativen gefehlt hat unter dem Grundgesetz-Gebot gleichwertiger Lebensverhältnisse die Entwertung des Landes aufzuhalten, stellt sich die Zukunft des Landlebens für Werner Bätzing als hochgradig prekär dar. Die nur langsam voranschreitende Umwandlung der Flächen zu Biolandwirtschaft, nachhaltig bewirtschafteten Waldgebieten und Naturschutzflächen allein – bisher gerade einmal 5-8 Prozent aller land- und forstwirtschaftlichen Flächen in Deutschland – wird auf absehbare Zeit keine Renaissance des Landlebens einleiten. Auch aktuelle entwicklungspolitische Tendenzen, durch den Ausbau von schnellem Internet und Verkehrsinfrastrukturen und angesichts von hohen städtischen Grundstücks- und Mietpreisen wieder global tätige Unternehmen und (Corona-Lockdown-gefrustete) „Stadtarbeiter“ aufs Land zu locken, sieht Bätzing eher reserviert: Seiner Ansicht nach verkennt dieser Ansatz die konkreten Grundqualitäten des Landes – neben der Natur- und ausgeprägten sozialen Nähe, eben auch eine eher gering spezialisierte Wirtschaftstätigkeit – und führt nolens volens eher zu einer Verstädterung, aber zu keiner eigentlichen Wiederaufwertung des Landes.
Das Landleben hat für Bätzing nur dann eine wirklich nachhaltige Zukunft, wenn es als eine der urbanen Lebensweise gleichberechtigte Existenz- und Wirtschaftsform akzeptiert wird – zugleich dabei aber auch weniger städtisch wird. In einem pragmatischen Aktionsplan plädiert der Geograf dafür, die Akteure auf dem Land – Einheimische wie Zugereiste und Rückkehrer - durch mehr direkte Mittelzuflüsse in die dörflichen Kommunen deutlich zu stärken, um eine gemeinsame Lebensraumgestaltung überhaupt erst zu ermöglichen. Die wirtschaftliche Zukunft des Landes sieht Bätzing in einer dezentral organisierten, regionsspezifischen Wirtschaftsweise, die mit der tendenziell auf den globalen Export ausgerichteten Wirtschaft der urbanen Zentren nicht konkurriert, sondern diese komplementär ergänzt: Ein Netzwerk von Regionalbetrieben, das sich auf gemeinsame ökologische und soziale Standards selbstverpflichtet, erzeugt dabei aus vorhandenen Ressourcen regionale Produkte und Dienstleistungen über eine Wertschöpfungskette, die deutlich länger als heute entwickelt ist und auch das Marketing und den Vertrieb umfasst. Allein der Verkauf erfolgt über die Städte. Neben einer spezifisch ländlichen, entsprechend dezentral und multifunktional aufgestellten Verkehrs-, Versorgungs- und Bildungsinfrastruktur, die Dorfläden, wohnortnahen Schulen ebenso wie Praxisgemeinschaften mit einem angeschlossenen Netzwerk von Spezialisten und vernetzte regionale Fahrgemeinschaften umfasst, fordert Bätzing die Raumordnung des Landes prinzipiell zu überdenken: Die Gebietsreformen der 1970er-Jahre, die in einer deutlichen Stadtorientierung konzipiert und umgesetzt wurden, müssten heute so weiterentwickelt werden, dass sich – ähnlich der seit 2006 institutionalisierten Naturparks – sinnvolle landkreisübergreifende ländliche Verwaltungszusammenhänge ausbilden.
Bei aller prinzipiellen Analyse zeichnet Bätzing auch die unterschiedlich gelagerten Problemlagen der vielfältig aufgestellten ländlichen Räume auf, die in Deutschland von starker Agglomerationsnähe, wirtschaftlichen „Hidden-Champion“-Unternehmen, touristischer Attraktion oder eben auch von peripherer Strukturschwäche geprägt sind und daher auch ganz verschiedener Entwicklungsschwerpunkte bedürfen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ausgangsvoraussetzungen bewertet der Kulturgeograf den Unterschied zur Stadt aber letztlich als den strukturell wesentlicheren. Erst wenn das Landleben als eine Einheit von Lebens- und Wirtschaftsform anerkannt wird, die durch ihre Naturnähe, ihre natürlichen Ressourcen und die damit verbundenen dezentralen Siedlungs- und Arbeitsstrukturen das Leben in den Städten erst ermöglicht, kann es auch wirklich eine Zukunft für das Land geben.