Städtischer Stoffwechsel: das komplexe System von Produktion, Austausch und Wiederverwertung
Die Ausstellung "Planetary Urbanism + Learning City Gelsenkirchen" beschäftigt sich mit globalen Hausforderungen der Verstädterung. In Teil 5 der Serie geht es um den Stoffwechsel in der Stadt.
Es ist ein ständiger Austausch: Städte verwerten Stoffe und Materialien und sie geben sie wieder ab. Dies ist dem Ökosystem Wald oder dem Menschen ähnlich. Der Wald als auch der Mensch nehmen Stoffe auf, wandeln sie um und scheiden sie aus. Das Bild des Stoffwechsels hilft Stadt- und Raumplanern dabei, das System Stadt zu verstehen. Mit Blick auf die Stadt meint Stoffwechsel die Bearbeitung und Organisation von Rohstoffen: wie sie zu Energie umgewandelt werden, wie daraus Nahrung und andere Produkte hergestellt werden, aber ebenso wie Unternehmen diese Produkte transportieren und handeln.
Schlüsselpositionen des städtischen Stoffwechsels sind Kraftwerke und die Energieproduktion, Kläranlagen, Mülldeponien und Wertstoffhöfe sowie die Infrastruktur für Verkehr und die Logistik.
Müll und Kultur
Wer über den Stoffwechsel nachdenkt, kommt schnell zum Thema Umweltschutz und damit auch zum Müll.[1] Die Bedeutung des Wortes Müll lässt sich auf mahlen/ zermahlen und den Müller zurückführen. Kulturwissenschaftlich beschreibt das Wort Müll all das, was sich nicht ordnen und eindeutig klassifizieren lässt. Die Anthropologin Mary Douglas etwa bezeichnete bereits in den 1960er-Jahren Müll als Dinge am falschen Ort.[2]
Unser Wort Kultur leitet sich aus dem Lateinischen "cultura" ab und bedeutet "Bearbeitung, Anbau im Ackerbau". So kann auch die Kultur als ein Prozess verstanden werden, welcher die Natur bearbeitet und so in ein Produkt verwandelt. Einen Teil davon erhält die Natur zurück, in diesem Sinne verwandelt Kultur Natur in Müll. Nach Michael Thompson steht Abfall als Bild für nicht Sichtbares, Ausgeschlossenes oder Ignoriertes. Seiner These nach gelten Güter als vergänglich, dauerhaft oder als – Müll. „Das, was ausgeschieden, aber nicht sichtbar ist, bildet […], weil es nicht stört, überhaupt keine kulturelle Kategorie, es ist einfach ein ›Residuum‹ des ganzen Kategoriensystems.“[3]
Kreisläufe und Cradle-to-Cradle
Mit diesem Wissen im Hinterkopf und zurück zur Praxis im Umgang mit Müll und Abfall schließt sich die Kreislaufwirtschaft an oder auch das Radle-to-cradle-Prinzip, bei denen die Wiederverwertung von Material und Stoffen entscheidend ist und bei letztem sogar von Anfang an mitgedacht wird.
Dieser Gedanke bekommt weiteres Gewicht, wenn man bedenkt, dass laut Umweltbundesamt „die deutsche Volkswirtschaft pro Jahr rund 1,3 Milliarden Tonnen an Materialien im Inland einsetzt“. Enthalten sind diese in Elektrogeräten und Autos, genauso wie in der Infrastruktur, in Gebäuden oder auf Deponien. Über die Jahre hat sich eine große Menge an Material angesammelt, das als sogenannter Sekundärrohstoff wieder genutzt werden kann. Ein Beispiel: Der Goldanteil eines durchschnittlichen Mobiltelefons entspricht dem von 16 Kilogramm Golderz.
Urban Mining ist dabei einer der neueren Begriffe und meint die Gewinnung von Rohstoffen aus Ablagerungen und langlebigen Gütern (im Gegensatz zu Kurzlebigen wie etwa Nahrungsmittel). Während sich Abfallwirtschaft mit dem Aufkommen (Menge, Bestandteile, Wiederverwertung) beschäftigt, konzentriert sich das Urban Mining strategisch auf den gesamten Bestand der Güter. Mit dem Ziel, frühzeitig die Materialströme zu erkennen und Möglichkeiten der Nutzung zu entwickeln.
Der Stoffwechsel auf der Halde Rheinelbe
Ein Sprung ins Ruhrgebiet, nach Gelsenkirchen-Ückendorf. Dort, wo Bergmänner in Zechenschächten Kohle förderten und in Hüttenwerke Stahl produzierten, lässt sich der Stoffwechsel gut verstehen. Riesige Halden entstanden durch das Abbaumaterial, wie etwa bei Halde Rheinelbe, die 106 Meter in die Höhe ragt. Nach dem Ende des Kohleabbaus ist diese sichtbares Zeichen der vergangenen Industrie. Sie ist aber auch Beleg dafür, wie in der Stadt mit Stoffen umgegangen wird. Zunächst einmal durch die Industrie selbst. Kohle fördern heißt auch, Erdmaterial zu Tage fördern, um an den begehrten Rohstoff zu gelangen. Nur wohin mit dem Material, das nicht zu verwerten ist? Die Unternehmen warfen Halden auf, künstliche Erhebungen, deren Zusammensetzung neben Erde, Kohle auch belastetes Material enthielt. Material, das abfiel beim Kohleabbau.
Einen Blick auf die Halde Rheinelbe gibt's in diesem Video.
Ein zweiter Umgang mit dem Stoff, und damit ebenfalls ein Teil des Stoffwechsel, lässt sich am Werk des Künstlers Herman Prigann beobachten. Dieser errichtete auf dem Gelände des heutigen Parks Rheinelbe Landschaftskunst. Den Abfall der Halde nutzte er als Rohstoff für seine Kunst. Aus dem Abbruchmaterial der ehemaligen Industriegebäude schuf er Skulpturen, denen der Besucher im verwunschenen Skulpturenwald begegnet. Die Skulpturen verweisen auf die dortige Industrie und die Gebäude, zeigen also wofür diese Stoffe und der Ort standen und – wofür sie heute verwendet werden. Im Sinne des Künstlers werden die Skulpturen nicht in ihrem Ursprungszustand konserviert, sondern sie verwandeln sich im Laufe der Jahrzehnte mit der um sie herum wachsenden Natur. Ein sinnbildlicher und physischer Stoffkreislauf.
Auch der Abraum (das Bergematerial) der Halde selbst, der aufgeworfene (verwertete) Boden – Erde, Schutt, Kohle und die so entstandene Topographie des Raumes wurden Teil seines Werkes: Auf den Haldenkegel setzte Herman Prigann eine weithin sichtbare Skulptur, die Himmelsleiter und verwandelte den ehemaligen Schuttberg in einen Aussichtspunkt. Das frühere Kohleabbaugebiet ist nun Park- und Wald- und Kunstlandschaft. Im gesamten Raum ist zugleich der verbrauchte Stoff weiterverwendet worden und der Raum macht so den Stoffwechsel sichtbar. Die Halde Rheinelbe verdeutlicht damit, wie Stoffe im Stadtraum ihren Ort aber auch ihre Bedeutung wechseln.
Anmerkungen:
[1] Wenngleich dies nur ein Teil des Stoffwechsel ist. Andere Faktoren für diesen sind zum Beispiel das Wetter und die bauliche Struktur der Stadt oder konkret die Versiegelung von Flächen, um nur ein paar wenige zu nennen.
[2] Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1966.
[3] Michael Thompson, Theorie des Abfalls. S. 111.
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