„Die Natur ist die große Ruhe gegenüber unserer Beweglichkeit. Darum wird sie der Mensch mehr lieben, je feiner und beweglicher er werden wird.“
Christian Morgenstern (1871–1914)
Wir leben in einer wissenden Gesellschaft. Die Erkenntnis, etwas verändern zu müssen, ist allseits bekannt. Uns wird die Komplexität unseres Lebens, Handelns und Stillhaltens von Tag zu Tag bewusster. Die Determinanten, die unseren Lebensraum ausmachen, verändern sich rasant. Über das Grau (z. B. Straßen) in unseren Städten wird viel nachgedacht. Das Blau (z. B. Flüsse, Regen) holt uns bei vielen Nutzungen und Planungen regelrecht ein. Das Grün (z. B. Gärten, Parks) scheint noch nicht so sehr bedenkenswert. Wie kommt das? Wir spüren sehr genau, was die gesellschaftliche Erwartung an Stadträume beinhalten müsste. Die Realität im Umgang mit unseren Lebensräumen unterscheidet sich jedoch häufig von den Anforderungen, die bereits heute an sie gestellt werden. Damit sind wir keine umsetzende Gesellschaft, obwohl wir wissen, dass sich bereits heute die Anforderungen an unsere Lebensräume drastisch verändern. Woran liegt unsere Trägheit? An fehlender Erkenntnis sicher nicht.
Mit Sicherheit ist der Umgang mit dem Grün in unseren Städten und Landschaften eine Antwort auf die Frage: Wie können wir unsere Lebensräume zukunftsgerecht verwandeln?
Das Grün, die Natur, Stadtlandschaften und ländliche Räume untersucht dieses Magazin. Wichtig ist es uns, mehr über die Aufträge und vielfachen Bedeutungen von Grün für unsere Lebenswelt zu erfahren und Akteur*innen, Initiativen und Nutzer*innen vorzustellen. Ökologie und Ökonomie, Planung und Realisierung, Natur und Kultur, Gestaltung und Funktionalität von Grün stehen im Fokus vieler Autor*innenbeiträge.
Die Idee hinter diesem Heft ist, die Perspektive auf, den Wert für und die Anforderungen an Grüngestaltung herauszuarbeiten. Damit begründen wir den Auftrag an das Grün in unseren Städten und Regionen aus einer baukulturellen Perspektive. Eine baukulturelle Perspektive verlangt danach, dass unsere Städte und Regionen natürlicher und grüner werden, dass wir die Lebensqualität und die Raumqualität nach ihr ausrichten wollen.
Was ist uns wie viel wert?
Das Bauen und die Wertschätzung unserer gestalteten Räume wirkt einstudiert, fassbar und irgendwie machbar. Gleichzeitig wird uns immer klarer: Derzeit sind das Bauen und die Gestaltung keine positiv besetzten Kulturwerte, und Baukultur ist kein positiv besetzter Begriff in der Öffentlichkeit. Leider entsprechen sich viel zu selten auf vielen Bedeutungsebenen Anspruch und Wirklichkeit, wenn es darum geht, unsere Städte und Regionen auf aktuelle und zukünftige Herausforderungen vorzubereiten. Es scheint, wir haben verlernt, mit dem Gegebenen umzugehen, und wir agieren bis dato noch nicht im Sinne einer Umbaukultur. Auch müssen wir lernen, Räume neu zu bewerten, um lebendige Räume zu erzeugen. Die Aufgabenliste erscheint also sehr lang, und die Zeit zerrinnt zwischen unseren Fingern. Wie gehen Sie als Leser oder Leserin mit dieser Frage um?
Was müssen unsere Städte und Regionen aus meiner Sicht leisten und welchen Stellenwert besitzt das Grün oder die Landschaft in meiner Vorstellung von Stadt oder Region?
Nun, um den Klimawandel kommt niemand herum. Das Klima mit seinen Entwicklungen ist der Zukunftsgestalter unserer Lebensräume, unserer Städte, Dörfer und Regionen. Die Wetterkatastrophen an Ahr, Erft und vielen anderen Orten im Juli 2021 haben uns sehr real aufgezeigt, was Wetterlage für unsere Lebensräume bedeuten kann. Wir reagieren mit Wiederaufbau und erst in zweiter Instanz mit regionaler Neuausrichtung, um zukünftig besser gewappnet zu sein. Unsere Innenstädte verlangen nach neuen Gestaltungen und Angeboten, um auf klimatische und wirtschaftliche Entwicklungen reagieren zu können. Denn Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum fördert Konsum.
Zusätzlich ist bewiesen, die Umsetzung von grünen Stadtlandschaften unterstützt eine gesundheitsorientierte Entwicklung und bietet gleichfalls attraktive Rahmenbedingungen für soziale und wirtschaftlich besetzte Raumentwicklungen. Dennoch genießt der grüngeprägte öffentliche Raum in Politik, Verwaltung und Wirtschaft nicht die Wertschätzung, die wir zum Bei-spiel zur Stützung der Handelsimmobilien aufbringen. Zusammengefasst beschreibt sich die Erkenntnis: Das Grün in der Stadt wird absehbar immer stärker zur Resilienz der Stadträume beitragen. Dennoch scheint die Beteiligung von landschaftsarchitektonischer Entwicklung als zentralem Element der Stadtentwicklung in vielen Stadtverwaltungen nur an Platz zwei zu stehen.
Grün in der Politik
Interessant ist: In der Politik Europas besitzt das Grün bereits einen nennbaren ökonomischen Wert. Im Alltag der Stadtplanung ist Grün noch immer und durchaus häufig kompliziert, ein Mehraufwand oder schwer durchsetzbar. Der viel beschworene „Green Deal“ der Europäischen Union legt Zeugnis hierzu ab. Sowohl die Davos-Deklaration von 2018 als auch die Neue Leipzig-Charta aus dem Jahr 2020 bedeuten noch nicht, dass wir in der täglichen Praxis der Stadtentwicklung und in den Interessen zur Raumentwicklung das Grün als wichtigen natürlichen Faktor sehen.
Grün als Architekturauftrag
In der Landschaftsarchitektur wird fortwährend das Grün diskutiert. Als Gestaltungsauftrag, als funktionale Umsetzung, als Infrastruktur der Städte oder als Qualifizierung unserer privaten, halbprivaten oder öffentlichen Räume. Es stellen sich Fragen: Was macht qualitätvolles Grün aus? Wie gehen wir mit dem Bestandsgrün um? Nicht selten führt die Befassung mit Grün oder die Auseinandersetzung mit dem Naturbegriff, der Biodiversität oder dem architektonischen Entwurf auch in der Fachwelt zu differenten Auffassungen. Der Dialog hierzu ist aus baukultureller Brille betrachtet aber von besonderer Wichtigkeit. Er handelt Erwartung, Auftrag und Umsetzungspotenzial aus der Fachwelt aus und bildet die Grundlage, überhaupt Stadtlandschaften zu erzeugen.
Grün als baukultureller Auftrag
Man könnte meinen, dieser Beitrag sei problemorientiert verfasst. Weit gefehlt – eine baukulturelle Perspektive richtet sich an Chancen zur Neuausrichtung und ist lösungsorientiert. Es ist jetzt der richtige Augenblick, offene Planungsprozesse oder Phase-0-Prozesse in den Verwaltungen zu erproben und umzusetzen. Es ist jetzt spannend, in unseren Städten gemeinschaftlich neue Raumqualitäten für aktuelle Erwartungen zu finden. Die Stadt als Wohnort mit ihren wirtschaftlichen Angeboten und attraktiven öffentlichen Räumen ruft geradezu nach grüner Gestaltung.
Es besteht jetzt die Chance, unsere Lebensräume auf unsere zukünftigen Erwartungen auszurichten, um negative Klimaszenarien möglichst zu vermeiden. Am Enthusiasmus und an Ideen im Umgang mit Grün mangelt es bei vielen Einzelakteur*innen und Initiativen nicht. Die allgemeine Haltung für und die Wertschätzung von Grün besitzen jedoch noch Potenzial, um als gesamtgesellschaftlicher Mehrwert begriffen zu werden. Deshalb steht ein Grün, Blau und Grau im Zentrum unserer baukulturellen Betrachtung als Chance und Vision zugleich.