Der Fotograf Matthias Jung reist seit mehr als zehn Jahren in das Rheinische Braunkohlerevier. Mit seiner Kamera hat er dabei nicht nur die dystopische Neuformierung der Landschaft dokumentiert, sondern vor allem die Menschen und Schicksale dahinter.
Gerade wurde das Ende der Braunkohleförderung im Rheinischen Revier besiegelt: Statt wie erst gedacht 2038 soll schon 2030 Schluss mit dem Tagebau und der Verstromung sein. Gleichzeitig gibt es aber - Russlands Ukraine- und Energiekrieg geschuldet – noch einige unerwartete Abweichungen im Ausstiegsfahrplan: Die angesichts intensivierter Klimaschutzbestrebungen bereits abgeschalteten Kraftwerksblöcke Neurath C und Niederaußem E und F gehen als Stromerzeugungsreserve wieder temporär ans Netz. Und um den Rohstoffbedarf der 1200-Megawatt-Blöcke zu stillen, steht auch in Garzweiler noch einmal eine Ausweitung des Tagebaus an: Die entsiedelte Ortschaft Lützerath soll vollständig weichen und ist dabei im Begriff zu einem erneuten Hotspot der Auseinandersetzung zwischen dem Stromkonzern RWE, Klimaschützern und Braunkohlegegnern zu werden.
Motivisch vielschichtige Zeitreise
Bereits vor einigen Monaten – als das kurzfristige Revival der Braunkohle noch unabsehbar war – hat der Erftstadter Fotograf Matthias Jung ein fotografisches Buchporträt der Region veröffentlicht: Was dabei etwas lakonisch einfach nur „Revier“ heißt, ist eine motivisch vielschichtige Zeitreise durch den ökologischen, sozialen und kulturellen Raubbau des Kohletagebaus – seine gravierenden Auswirkungen auf Ökosysteme, Siedlungszusammenhänge und Bewohner*innen, vor allem deren kollektiver Identitäts- und Heimatverlust.
Die Aufnahmen, die alle rund um die Gruben von Hambach und Garzweiler in den Jahren 2011 bis 2021 entstanden, sind das Spiegelbild eines Jahrzehnts, in dem die Ausweitung der Abbaugebiete einerseits weiter forciert wurde, andererseits aber auch die Zweifel an und die Proteste gegen den verheerenden Flächen- und Siedlungsfraß zunahmen – sowohl auf lokaler Ebene in Teilen der von Umsiedlungen betroffenen Bevölkerung als auch unter der gewachsenen Zahl von Klimaaktivisten und Klimaschutzbefürwortern. Vor allem der Protest der Klimaaktivisten kulminierte in den teilweise gewaltsam geführten Auseinandersetzungen um den Hambacher Forst 2017/18, dessen Erhalt schließlich durch den Entscheid der Kohlekommission 2020 auch legislativ bestätigt wurde.
Revier. Hrsg.: Matthias Jung | Hardcover, 148 Seiten | 24,50 x 30,50 cm, de | ISBN 978-3-86206-969-9 | Kettler Verlag, Dortmund: April 2022 | 42,00 € www.verlag-kettler.de
Auch in Matthias Jungs Revier-Porträt finden sich einige Aufnahmen aus dieser heißen Zeit des Guerilla-Protestes – die Mehrheit der Fotografien fängt allerdings vor allem die stille „Normalität“ des sich über eine lange Zeitspanne vollzogenen Abrisses von ganzen Ortschaften ein samt der einhergehenden Demontage von Bewohnerschaft (Statistiken zufolge insgesamt über 45.000 Menschen), Vereinen, Schützen- und Karnevalsbrauchtum. Am Ende stand dabei fast immer die durch ökonomische Anreize attraktiv gemachte Umsiedlung in nahgelegene „Ersatzorte“, die (im besten Fall) den alten Ortsnamen mit dem Zusatz „Neu“ führen, baulich ansonsten aber so gesichtslos geblieben sind wie jedes andere zeitgenössische, auf der grünen Wiese errichtete Wohnneubaugebiet.
Dahindämmern von Gebäuden
Viele dieser Dörfer, die teilweise auf eine jahrhundertealte, wenn nicht gar Jahrtausende umfassende Siedlungsgeschichte zurückblicken können, existieren unwiederbringlich nur noch in den Fotografien, die Jung oft in den letzten Tagen und Monaten vor ihrem Abrisstod aufgenommen hat; sie sind mittlerweile völlig getilgt auf der Karte des Tagebaus. Andere, wie das über tausendjährige Manheim, leben dagegen noch als zwitterartiger Zombie fort: Einerseits wurden sie entsiedelt, die Dorfbevölkerung umgesiedelt (Manheim-neu), andererseits wurde die Bausubstanz nach dem beschlossenen Kohleausstieg nicht mehr angetastet: Ihre verlassenen, oft aus Backstein entlang der Straßenzüge errichteten Bauten und Anlagen - Wohnhäuser, alte Gehöfte, Kirchen, Friedhöfe - dämmern seitdem in einem ungewissen Schwebezustand dahin.
Die zeitweise Besitznahme der Gebäude 2016 durch syrische Flüchtlingsfamilien spart Jung in seiner Darstellung allerdings aus. Was bleibt, sind die ambivalenten Phantomschmerzen der früheren Bewohner*nnen, die mittlerweile in der Einfamilienhaussiedlung Manheim-neu wohnen, aber ihre ganzen persönlichen und familiären Erinnerungen sowie das dörfliche Gemeinschaftsleben im weiterhin bestehenden Manheim (Alt) zurückgelassen haben.
Die mit 92 Jahren ebenso hochbetagte wie scharfsinnig formulierende Schriftstellerin Ingrid Bachér, die 2011 den Revier-Roman „Die Grube“ veröffentlichte, hat zu Jungs Fotobuch ein Text-Fragment als Prolog beigesteuert. Es ist ein Brief an die Nachwelt, in dem sie das langsame, über 50 Jahre vollzogene, völlig spurlose Verschwinden von Ortschaften und Landstrichen geißelt, das sich im Revier zu einem autonomen, über jeden Einspruch und jede rationale Kritik erhabenen Prozess verselbstständigt habe: „Das fruchtbarste Land wie Abfall behandelt. Abraum, abgetragen und durchmischt, vernichtet so der Aufbau, die Abfolge in Jahrtausenden geschaffen, Zeitströme, die zu messen sind, Wirkungsströme.“
Archäologische Fundstücke
Matthias Jung greift diese Gedanken auf und reichert sein fotografisches Porträt mit archäologischen Fundstücken an, die vor den Schaufelradbaggern, die das Geschichtete und die Geschichte über Bord werfen, gerettet wurden: Neben einem Mammutstoßzahn, diversen prähistorischen und Altertumsfunden sind auch Schmuckteller der Rheinbraun AG dabei, Schützen-Ehrenabzeichen und ein Glas mit Schnippelbohnen, eingeweckt im Jahr 1988. Das Rheinische Revier war einmal so viel mehr als nur die Verheißung des schwarzen Goldes, das hier viel zu tief in der Tiefe schlummerte – der Auftrag der Zukunft wird sein, an diese verschwundenen Geschichten wieder anzuknüpfen.
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