Beinahe jeder hat eine Anekdote zu erzählen über einen Konflikt mit deutschen örtlichen Bauverordnungen. ODer über den vermeintlichen (Un-)Sinn von Verwaltungsvorgängen - und wie sich diesem kreativ und an der Grenze zur Illegalität begegnen lässt. Denn viele Menschen fühlen sich hierzulande durch Gesetze und Verwaltungsakte in ihrer persönlichen Entfaltung auf privatem Grund und Boden eingeschränkt. Da geht es um das Fällen eines unliebsamen Straßenbaumes oder die Baugenehmigung für die eigene Gartenhütte. Was wir davon allgemein halten und wie wir damit praktisch umgehen, lässt sich auch am Rande von S-Bahnstrecken beobachten: Zur Straße hin stehen alle Häuser regelkonform in Reih und Glied. Doch auf der Gartenseite wuchern Anbauten, Pavillons und Wintergärten, die auf keinem städtischen Plan verzeichnet sind.
In der Ausstellung "Planetary Urbanism + Learning City Gelsenkirchen" setzt sich der Abschnitt "Informelle vs. verregelte Strukturen" unter anderem mit solchen Gegensätzen von den Regeln der öffentlichen Hand und dem selbst organisierten Bauen auseinander.
Informelles Bauen – ein Information Overload
Der Siegerbeitrag des vorangegangenen Wettbewerbs trägt den Titel "Information Overload" und hat sich dieser Thematik in besonderer Weise genähert: Eine Forschungsgruppe des Habitat Forums Berlin hat mehrfach Karail Basti, die größte informelle Siedlung in Dhaka, Bangladesh, aufgesucht und dort die Lebensrealität der Bewohner erforscht.
Im Wissenschaftspark Gelsenkirchen können Besucher vom 23. November bis zum 16. Dezember 2017 eine Karte sehen, die den ohne reguläre Stadtplanung und illegal entstandenen Stadtteil zeigt, der in Zusammenarbeit mit Bewohnern entstanden ist. Diese haben dort schriftlich Orte ihres täglichen Lebens festgehalten, wodurch eine beeindruckende Lebendigkeit auf Papier festgehalten wird: Die Wörter stehen dicht beieinander, ergänzt durch kleine Symbole. Zusammen formen sie Straßen, Häuserblöcke und das umgebende Gewässer, auf denen Boote die täglichen Pendlerströme verzeichnen. Keine Linien und keine Straßenhierarchie ordnen das Bild. Das Auge springt dadurch unablässig von Wort zu Wort, allein weiße Stellen auf dem Papier deuten Straßen- und einige wenige Platzräume an. Die darin – im wahrsten Sinne des Wortes – ablesbaren Funktionen zeugen jedoch nicht vom Selbstverwirklichungsdrang der Bewohner, sondern entstehen aus der puren Notwendigkeit, ohne staatliche Daseinsfürsorge überleben zu müssen.
Improvisieren für das Zusammenleben
Neben "Housing" (Wohnhäuser), "School" (Schule) "Garbage Disposal" (Müllentsorgung) und "Rickshaw Parking" (Rikscha-Parkplatz), die man auch in geplanten Städten antrifft, gibt es außerdem sogenannte "Credit Rooms" (Krediträume). Dazu kommen "So Called Doctors House" (Das sogenannte Doktorhaus) und Zeichen, die bedeuten, dass sich dort das "Mobile" (Mobiltelefon) aufladen oder sich telefonieren lässt. Diese Wörter dokumentieren die improvisierten Lösungen für das Zusammenleben. Zu diesen gelangen die Bewohnerinnen und Bewohner von Karail Basti ohne Anschluss von Zu- und Abwasser, Elektrizität, öffentliche Bildungseinrichtungen und einem Zugang zu gesundheitlicher Versorgung.
Dazu zählen ein selbstorganisiertes Stromnetz, gemeinsam betriebene Koch- und Waschstellen, örtliche Komitees für Anliegen der Selbstverwaltung sowie "Spargruppen", die den nicht amtlich gemeldeten Bewohnern Zugang zu Bankkontos verschaffen. Es sind Systeme, in denen wiederum marktwirtschaftliche Prinzipien von Angebot, Nachfrage und Wettbewerb gelten, die zu Bodenspekulation, sozialer Ungleichheit und Verdrängung führen.
Damit steht der Ort stellvertretend für die rund eine Milliarde Menschen, die mangels Alternativen an den ärmeren und unterversorgten Rändern von Megacities siedeln – Tendenz stark steigend. Insofern beantwortet das Beispiel auch die eingangs gestellte Frage: Was passiert, wenn Städte nicht geplant werden? Und zugleich zeigt der Ausstellungsbeitrag die Möglichkeiten einer informellen und selbstorganisierten Stadtentwicklung, im selben Maße jedoch auch die leichthin als selbstverständlich erachteten Vorzüge einer garantierten öffentlichen Versorgung.
Wie für informelle Siedlungen typisch ist die vorgestellte Karte nicht mehr als eine flüchtige Momentaufnahme. Denn die Siedlungen wandeln sich ständig. So haben seit der Entstehung der Karte mehrere Feuer im Karail Basti gewütet und das Ortsbild verändert (zwei Beiträgen dazu hier und hier).
From Dahka to Ückendorf - neue Perspektiven auf Städte gewinnen
Studierende der Raumplanung an der TU Dortmund nehmen sich diese besondere Kartierungsweise zum Vorbild. Sie fertigen gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern der Gesamtschule Ückendorf im Vorfeld der Ausstellung ähnlich subjektive Karten von Gelsenkirchen Ückendorf an. Der Stadtteil ist durch die Industrialisierung geformt und gewachsen und besonders stark vom industriellen Rückbau und dem Strukturwandel der Region betroffen. Sozialstrukturelle Defizite führten zu Nachteilen als Wohn- und Wirtschaftsstandort. Ein hoher Anteil privater Altbauten wandelte sich zu einem problemmatischen Immobilienbestand. Heute ist Ückendorf ein multikulturell geprägter Stadtteil und es ist spannend, welche bisher wenig bekannten Orte und Informationen sich in den neuen Karten wiederfinden werden.