Das Potenzial des Vorhandenen erkennen
Unsere Wahrnehmung ist weit mehr als das bloße Sehen. Sie ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels all unserer Sinnesorgane, die ständig Informationen aus unserer Umwelt aufnehmen und verarbeiten. Unser Gehirn filtert die Sinneseindrücke und ergänzt diese mit gespeicherten Erfahrungen, Erwartungen und Mustern. Die individuelle Betrachtung unserer Umwelt ist nicht objektiv, sondern wird durch die Brille unserer Vorannahmen gesehen. Äußere Bedingungen und individuelle Erfahrungen greifen dabei in unsere Kognition und unsere Gefühle ein und beeinflussen so, wie wir die Welt wahrnehmen. Dabei kommt es vor, dass wir zum Beispiel etwas als störend empfinden, das wir früher als schön betrachtet haben– oder umgekehrt.
Was bedeutet diese Erkenntnis für die Wahrnehmung unserer gebauten Umwelt und wie gehen wir damit um? Ob ein Gebäude, eine Straße oder eine ganze Stadtlandschaft als ästhetisch empfunden wird, hängt nicht allein von dem Zeitpunkt des Baus oder der Entstehung sowie der Kontexte ab, sondern vielmehr von unserem aktuellen Verhältnis dazu. Es geht darum, wie wir – geprägt durch unser Wissen, unsere kulturelle Landschaft, unsere Gebräuche und Rituale – diese Umwelt wahrnehmen und verarbeiten. Wahrnehmung ist immer subjektiv, wie der Neurologe und Wahrnehmungspsychologe Philipp Sterzer treffend beschreibt: „Die grundsätzliche Idee, wie Wahrnehmung funktioniert, ist eigentlich die, dass Wahrnehmung letztlich ein Produkt aus unseren Erwartungen, unseren Vorannahmen und den sensorischen Eingangssignalen ist.“
Wahrnehmung als dynamische Praxis
Unsere Wahrnehmung wird somit stark durch die Kulturen und die sozialen Gefüge geformt, in denen wir leben. Sie ist keine objektive Reflexion der Realität, sondern eine dynamische Kulturpraxis, die sich durch Traditionen, Annahmen und persönliche Erfahrungen verändert.
In diesem Licht wird verständlich, warum Dinge, die ihre ursprüngliche Funktion verloren haben, oft als wertlos oder überflüssig erscheinen. Ohne einen erkennbaren Nutzen (und das Wissen darum) verlieren sie in den Augen des Betrachters ihre Identität – und damit ihren Wert. Doch genau diese subjektive Wahrnehmung birgt auch die Möglichkeit, scheinbar Überholtes neu zu bewerten und diesem eine neue Bedeutung zu geben.
Ressourcen als Potenziale nutzen
Der Bausektor ist einer der größten Verursacher von CO₂-Emissionen weltweit. Er erzeugt Abfälle und ist Hauptverbraucher nicht-nachwachsender Ressourcen. Angesichts dieser begrenzten Rohstoffe und der Dringlichkeit für mehr Klimaschutz ist eine Bauwende längst Notwendigkeit. Jedoch sind Abriss und Neubau in den seltensten Fällen nachhaltig gedacht. Wie lernen wir, den Wert bestehender Gebäude zu erkennen, sodass wir Räume schaffen, die wir nutzen, beleben und in denen wir uns wohlfühlen? Und: Wie können wir unsere Wahrnehmung nutzen, um eine nachhaltigere Baukultur zu fördern? Was brauchen wir, damit wir uns im Umgang mit Bestand konsequenter für eine Umnutzung entscheiden?
Eine Frage der Haltung
Schauen wir in die Geschichte, finden sich viele Beispiele von Gebäuden oder Arealen, die ihre ursprüngliche Funktion und ihren Wert verloren hatten und dennoch erfolgreich revitalisiert wurden. Die Stadt Essen ohne die Zeche Zollverein? Undenkbar. Was einst als Symbol für wirtschaftlichen Niedergang gewertet wurde, glänzt heute als UNESCO-Welterbe und international anerkanntes Kultur- und Kreativzentrum. Nach der Stilllegung 1986 stand die Zeche vor dem Abriss. Doch durch eine neue Perspektive wurde das Gelände zum Symbol für den Strukturwandel im Ruhrgebiet neu definiert und ist heute das bekannteste Ziel für den Tourismus im Ruhrgebiet.
Die Herausforderungen im Umgang mit sich wandelnden Arealen und Gebäuden und der veränderten Wahrnehmung solcher Orte begleiten uns bis heute – und werden uns auch in Zukunft beschäftigen. Besonders deutlich wird das bei bestimmten Gebäudetypen: Kirchen, die immer häufiger leerstehen, oder große Strukturen wie Einkaufszentren und Supermärkte, die einst für eine klar definierte Nutzung gebaut wurden. Sie alle stellen uns vor ähnliche Aufgaben. Viele Beispiele zeigen, diese Räume können wir neu ausrichten und beleben: Kirchen werden gemeinwohlorientierten Treffpunkten oder zu Freizeit- und Kultureinrichtungen, Einkaufszentren wandeln sich zu Wohnraum, Wassertürme mutieren zu Bürogebäude und Umbauten von Plattenbauwohnungen stellen eine attraktive Alternative zum Einfamilienhaus dar. Die rechtlichen Anforderungen, die Gestaltung und die Frage nach der Identität solcher Räume sind dabei wesentliche und bestimmende Faktoren.
Eine neue Erzählung für eine nachhaltige Umbaukultur
Kleine Eingriffe, große Wirkung
Ein Beispiel: Bereiche des ehemalige DDR-Verwaltungsgebäudes „Haus der Statistik“ wurden 2015 in einem partizipativen Prozess umgenutzt, um Raum für soziale, kulturelle und gemeinschaftliche Projekte zu schaffen. Die Planung übernahm die Koop5. Mit minimalen Eingriffen und dem Erhalt der ursprünglichen Struktur entstand ein Modellprojekt für nachhaltige Stadtentwicklung, das bezahlbaren Wohnraum, Ateliers und soziale Einrichtungen verbindet. Es gibt viele weitere Beispiele, wie mit möglichst geringen Eingriffen die Nutzung von Gebäuden verändert und diese wieder zum Leben erweckt werden können.
Andere Möglichkeiten klug und mutig umzubauen, finden sich den Umbauprojekten der DEMO Working Group, einem jungen Architekturbüro aus Köln ab. Das Büro zeigt, wie auch mit geringer Fläche Wohnansprüche neu gesetzt werden können, etwa in einer 82 Quadratmeter große Geschosswohnung in einer Wohnanlage aus den 1970er-Jahren in Köln. Für junge Familien ist dies eine Alternative zum beliebten Einfamilienhaus auf der grünen Wiese. Ihre Arbeiten stellte die DEMO Working Group zusammen mit DUPLEX Architekten aus Düsseldorf und dem Büro Dr. Schramm Michael Partner aus Gelsenkirchen zuletzt Ende Februar 2025 in der Reihe „Im Diskurs“ im UmBauLabor von Baukultur NRW vor.
Mit dem arbeiten, was vorhanden ist
Im Bestand zu arbeiten bedeutet, mit dem zu arbeiten, das bereits da ist. Das erfordert Kreativität und auch die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen. Räume, die nicht perfekt zu unseren heutigen Idealvorstellungen passen, können durch ihre Geschichte, Atmosphäre und Einzigartigkeit neue Qualitäten entfalten. Besonders durch veränderte Arrangements entsteht eine spannende Ästhetik, die oft unverhoffte Gestaltungsqualitäten mit sich bringt. In diesem Rahmen wird ein Umbau und eine Umnutzung nicht nur möglich, sondern folgerichtig.
Das Sehen verändert sich
Beschäftigen wir uns mit den Potenzialen des Umbauens, eröffnen sich darüber hinaus Chancen, unseren Blick zu schärfen und eine neue Art des Sehens und Wahrnehmens zu entwickeln. Eine, die uns dazu befähigt, erhaltene Gebäude und Umbauten in ihrer eigenen, oft unerwarteten und uns nicht mehr geläufigen Ästhetik zu schätzen – und sie vielleicht sogar als schön zu empfinden. Es muss uns daher gelingen, diese Potenziale sichtbar zu machen und zu zeigen, dass transformierte Räume funktionieren können – sei es in der alltäglichen Nutzung, in ihrer Energieeffizienz oder in ihrer ästhetischen Wirkung.
Eine nachhaltige Umbaukultur braucht also nicht nur technische und gestalterische Innovationen, sondern auch eine neue Haltung und Erzählung. Auf diese Weise lassen sich Menschen dafür begeistern, sich auf das Ungewohnte einzulassen und die Schönheit im Vorhandenen zu entdecken. Indem wir unsere Bestände schätzen, können wir eine Baukultur schaffen, die ressourcenschonender, nachhaltiger und zukunftsfähiger ist.