Wohnexperimente: Wohnhügelhäuser in Marl und Girondelle in Bochum
Wohnkisten, Käfige, Betonburgen: Vorurteile eilen der Architektur der 1960er Jahre voraus. Dabei waren die Nachkriegsjahre eine Zeit des Aufbruchs und der Experimente.
„ ... die Anwendung und Bezugnahme auf Technologien der industriellen Produktion wie Serialität, Elementierung, Vorfertigung, De- und Remontage oder Sichtbarkeit und Herstellungssytematik sind oftmals die Quellencodes der Ästhetik.“
M. Hecker/ U. Krings, 2011
„Preisgünstige Eigentumswohnung in ruhiger Lage, zentrumsnah, öffentliche Verkehrsanbindung. Die Wohnanlage bietet unterschiedliche Wohneinheiten für jede Lebenssituation. Wohnungen im Erdgeschoß mit eigenem Garten, Wohnungen in den Obergeschossen mit großer Wohnterrasse, vor den neugierigen Blicken der Nachbarn geschützt, Südsonne, raumhohe Fenster, ausreichend Garagenstellplätze.“
Eine solche Anzeige würde einen Wohnungssuchenden doch neugierig machen, aber ganz sicher wird er mit dieser Anzeige keinen Wohnkomplex aus den 1960er Jahren verbinden. Allzu verfestigt sind die Vorurteile, dass es in diesem Jahrzehnt ausschließlich vom Wirtschaftsfunktionalismus diktierte menschenverachtende „Käfighaltung“ gegeben habe. Natürlich gab es und gibt es immer noch unzählige diese banalen Wohnkisten, deren Raumangebot noch unter dem Durchschnitt der Vorkriegszeit lag. Aber es gab auch sehr ambitionierte Versuche, zeitgemäßen, komfortablen Wohnraum für unterschiedliche Lebensbedürfnisse zu schaffen. Dabei wurden die Planungen bestimmt von den Überlegungen, kompakte Wohnanlagen zu schaffen, um die wertvolle Ressource Bauland zu schonen und möglichst umfangreiche Grünflächen für die Naherholung zu erhalten. Forderungen, wie sie heute nicht aktueller sein könnten.
Wie ein Berg
Ein solches Wohnexperiment verkörpern die Marler Wohnhügelhäuser. Die Stadt hatte sich mit dem ab 1960 begonnenen Rathauskomplex nach einem Entwurf des Niederländers Jacob Barkema bereits als experimentierfreudig und der modernen Architektur aufgeschlossen erwiesen. So ging die neue Marler Baugesellschaft 1963 das Wagnis ein, das erste Wohnhügelhaus in Europa zu realisieren. Gleichsam wie ein Berg sind in vier Geschossen die Wohneinheiten übereinander gestapelt. Im Erdgeschoss beträgt die Gebäudetiefe fast 42 Meter, während sie im dritten Obergeschoss nur noch knapp 10 Meter misst. In die schräge Außenhaut des Gebäudes sind die Terrassen eingeschnitten und so jeweils den neugierigen Blicken der Nachbarn entzogen. Auf engstem Raum wird die Privatsphäre gewahrt, und die Bepflanzung der großen Terrassenkübel ermöglicht eine auch am Außenbau sichtbare individuelle Gestaltung jeder einzelnen Wohnung.
Kurzfristige Skepsis, langfristiger Erfolg
Die Architekten Peter Faller, Roland Frey, Hermann Schröder und Claus Schmidt aus Stuttgart hatten bereits 1959 ihre Idee vom Wohnhügelhaus präsentiert. In einer Anlage dieser Art sahen sie die Möglichkeit, die Vorzüge eines Einfamilienhauses mit dem Gebot der höheren Wohndichte zu vereinen. 46 Wohneinheiten, von der 76 Quadratmeter großen Zweizimmer-Wohnung bis zur 137 Quadratmeter umfassenden Fünfzimmerwohnung, beherbergt jedes der insgesamt vier Wohnhügelhäuser in Marl. Mit 800 DM pro Quadratmeter lagen die Herstellungskosten deutlich unter den 1200 DM für den konventionellen Eigenheimbau.
Diese atypische Wohnarchitektur fand großes Interesse in der nationalen- und internationalen Fachpresse, stieß aber in Marl selbst zunächst auf wenig Gegenliebe. "Nur wenige wollen im Hügelhaus wohnen", titelte die Buersche Zeitung im Herbst 1967. Schwierigkeiten bereiteten den Interessenten vor allem die Dachschrägen und die damit verbundene Möblierung. So ließ die Baugesellschaft vier Musterwohnungen mit Hilfe von Marler Möbelhäusern und der Innenarchitektin Elke Pumpe-Krüger ausstatten. Alleine an einem Oktoberwochenende des Jahres 1967 besichtigten 20.000 Menschen die Musterwohnungen. Das Experiment Wohnhügel war langfristig ein Erfolg und fand zahlreiche Nachahmungen im In- und Ausland.
Terrassenhaus in Bochum
Genauso experimentell, gestalterisch sogar noch ambitionierter, aber weniger geglückt, ist das Terrassenhaus Girondelle in Bochum. Mit dem Bau der Ruhr-Universität Anfang der 1960er Jahre und der Ansiedlung der Opel-Werke stieg der Bedarf an Wohnungen in der bis dahin von der Montanindustrie geprägten Stadt. Auf dem teilweise noch bewaldeten Gelände zwischen der Universität und dem Ortsteil Wiemelshausen wurde ein ausgedehntes Siedlungsgebiet für 25.000 Bewohner ausgewiesen. Ziel war es auch hier, die Wohnbebauung zu konzentrieren, um so möglichst große, zusammenhängende Naherholungsgebiete zu gewinnen.
Das Terrassenhaus Girondelle, entworfen von dem Nürnberger Architekten Albin Hennig, erhebt sich auf einem der drei Hügel, die das Gelände kennzeichnen. Der längsrechteckige, bis zu acht Geschossen hohe Baukörper nimmt die gesamte Länge der Hügelkuppe ein. So konnten die Wohnungen mit ihren Balkonen nach Osten und Westen ausgerichtet werden. Trotz der enormen Baumasse von 211 Wohneinheiten, die von der Sechszimmer-Wohnungen bis zum 1 ½ -Zimmer-Apartment reichen, erscheint die Gesamtanlage nicht sehr massiv. Das bewirken die vielfältigen, versetzten Rücksprünge, die den Gebäudequerschnitt - wie im Wohnhügelhaus - nach oben hin verjüngen. Zur Auflockerung des Erscheinungsbildes tragen auch die farbigen – heute leider sehr verblassten – Paneelen um die Fenster bei sowie die plastisch ausgeformten, auf kompakten Basen ruhenden Pflanzkübel. Entstanden ist ein skulpturaler Baukörper, der sich wohltuend von den monotonen Wohnkisten in seiner Nachbarschaft absetzt. Der verwahrloste Zustand der Girondelle beeinträchtigt aber erheblich ihr heutiges Erscheinungsbild und lässt die teilweise bereits sanierten Wohnkisten der näheren Umgebung wohnlicher erscheinen.
Mehr Licht!
Viele der Betonkübel entlang der Terrassen der Girondelle sind heute nur spärlich bepflanzt. Sie sollten wie im Marler Wohnhügel den Bewohnern einen privaten Grünraum ermöglichen und auch nach außen die Wohnung durch einen individuellen Akzent kennzeichnen. Einige der Pflanzkübel sind heute durch Eisengitter ersetzt worden, die an Straßenabsperrungen erinnern. Das mag nicht nur mit dem maroden Beton zu tun haben, sondern ist sicher auch dem verzweifelten Versuch der Bewohner geschuldet, mehr Licht in ihre Wohnungen hinein zu lassen. Genau hier liegt der wunde Punkt der Anlage: Durch die Längsausrichtung sind die kleineren Wohnungen nur von einer Seite belichtet und damit auch schlecht belüftet. Im inneren, dunklen Kern des Komplexes liegen nicht nur die Flure, sondern zum Teil auch Küchen und Bäder. Auf einigen Ebene sind die Wohnungen allerdings durch Laubengänge erschlossen. Was sich schon in der Planungsphase als schwierig erwies, konnte auch in der Ausführung nicht überzeugend gelöst werden.
Bei der dringend gebotenen Sanierung der Girondelle müsste man hier bessere Lösungen entwickeln. So könnte die ursprüngliche Idee unterschiedliche Wohnungsgrundrisse in einem Komplex zu vereinen, wie sie das Wohnhügelhaus in Marl und die Girondelle beseelt haben, ebenso wie der Wunsch, jedem Bewohner seinen ganz privaten Außenraum zu ermöglichen, doch noch zu einer Erfolgsgeschichte werden. Was Architektur allerdings nicht leisten kann, ist soziale Fehlentwicklungen ausgleichen, wie sie das Wohngebiet um die Girondelle kennzeichnen.
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