Straßenzug in Bergisch Gladbach.
Straßenzug in Bergisch Gladbach. Foto: Karen Jung, Paul Andreas

Ausfahrt ins Bergische.
Auf den Spuren einer regionalen Baukultur

Karen Jung und Paul Andreas durchstreifen das Bergische Land. In ihrer Reportage begeben sie sich auf die Suche nach der regionalen Wohnkultur zwischen Identität und Geschichte, Geografie, Wirtschaft und Architektur.

Deutschland lebt in Regionen. Fast jeder dritte Bundesbürger zählt derzeit eine Kleinstadt zu seinem Lebensmittelpunkt, 70 Prozent der Bevölkerung leben „auf dem Dorfe“ und etwa 30 Prozent in einer Großstadt mit mehr als 100.000 Einwohnern. Die Wechselwirkung zwischen Stadt und Land ist eine Herausforderung, die auch Nordrhein-Westfalen ganz aktuell betrifft. Die Vielfältigkeit der Regionen drückt sich dabei auch in einer spezifischen Baukultur aus. Baukultur Nordrhein-Westfalen untersucht deshalb bereits seit 2020 gemeinsam mit verschiedenen Partnern das Thema Wohnen in NRW und fragt nach den Qualitäten für das Wohnen in der Region.

Unterschiedliche Themen und Regionen wurden dabei in den Blick genommen: das Land als Bauland unter dem Titel „Country-Site“ im Rheinischen Revier, die „Vielfalt des Wohnens und Lebens“ im ländlich geprägten Raum von Ostwestfalen-Lippe. Unser folgendes „Kapitel“ soll nun unter dem Motto „Weiterbauen“ dem Bergischen Land gelten – einer Region, deren territoriale Anfänge bis in das frühe Mittelalter zurückgehen und die (begünstigt durch eine besondere naturräumliche und klimatische Morphologie) eine kontinuierlich gewachsene Kulturlandschaft ausgeprägt hat. Vor allem die Ausnutzung vorhandener natürlicher Ressourcen (Wasserkraft, Holzwirtschaft, Metallverarbeitung, Papier- und Textilproduktion etc.) ist historisch dabei zum Treiber einer beispiellos frühindustriellen Entwicklung geworden, deren bauliche und räumliche Strukturen sich bis heute vollständig oder doch zumindest in Teilen erhalten haben.

Das Bergische Land - eine Entdeckungsreise

Im Fokus dieser Reportage steht das Bergische Land als kulturlandschaftlicher Raum von besonderem Charakter und regionaler Eigenständigkeit. Zumindest bis zur historischen Bruchstelle des Zweiten Weltkrieges – an mancher Stelle auch darüber hinaus – hat sich die kulturelle Eigenart dieser Region auch in der Bau- und Siedlungskultur ausgedrückt. So wurde über Jahrhunderte eine regional gebundene Baukultur ausgeprägt, die auf vorhandene Ressourcen aus der Region gesetzt hat.

Das regionale Attribut „Bergisch“ leitet sich dabei übrigens nicht direkt aus der hügeligen Mittelgebirgs-Topografie ab, sondern vom Grafen- und späteren Herzogsgeschlecht des Hauses „Berg“. Darüber hinaus gehend wussten wir allerdings vergleichsweise wenig über diesen Landstrich: Klar, die vielen engen, oft von kleinen Bachläufen geprägten Täler bieten naturhungrigen Wanderern viel Auslauf und Erholung. Und ja, die oftmals mit Schiefer verblendeten Fachwerkhäuser der Ortschaften und Höfe passen dazu geradezu idyllisch ins Bild. Aber was für Entwicklungen hatten zur Ausbildung dieses einheitlichen Ortsbildes geführt? Welche Siedlungsräume hatten sich hier über die Jahrhunderte entwickelt? Und wie lassen sich diese im Rahmen unseres Ansatzes einer Regionalität des Wohnens reflektieren und im Dialog mit den heutigen Wohnbedürfnissen tradieren?

Um einen Einstieg in die Region und ihre baukulturellen Charakteristika zu bekommen und die Geschichte und Eigenarten des Landstriches im Raum zu erleben, beschlossen wir, eine „Bergische Tour“ zu unternehmen. Unser „Fahrplan“ war eng getaktet: Zunächst wollten wir Kurs auf das südlich gelegene, etwa bis zum Flusslauf der Sieg reichende Oberbergische Land nehmen. Nach der Rückreise nach Norden und einer Übernachtung in Wuppertal sollte es dann weiter in die nördlichen, zwischen Ruhr und Wupper gelegenen Landesteile des „Niederbergischen“ gehen. Die Haltepunkte waren individuell gewählt, geprägt durch den Fokus von Architektur, Städtebau und Baukultur. Hinzu kam natürlich auch das Momentum des glücklichen Zufalls, das den Reisenden stets begleitet – auch deshalb nutzten wir durchweg kleine Straßen und Wege.

Flussverläufe helfen dabei, das „Bergische Land“ territorial einzugrenzen: Die frühe Grafschaft und das spätere Herzogtum der Herren von Berg entfaltet sich vom 11. Jahrhundert bis 1815 – jenem Jahr, als der Wiener Kongress das Herrschaftsgebiet dem Königreich Preussen zuschlug – in zunehmender territorialer Ausdehnung zwischen dem Rhein im Westen, der Ruhr im Norden und der Sieg im Süden. Die östliche Grenze nach Westfalen und zum Sauerland basierte dagegen auf keiner eindeutigen naturräumlichen Begrenzung, sondern war allein durch benachbarte Kleinstaaten definiert.

Interessant ist, wie sehr sich trotz der territorialen Neuordnung vor mehr als 200 Jahren die Bezeichnung „Bergisches Land“ bis heute im Regionalbewusstsein erhalten hat. Auch wenn bestimmte Landesteile dabei ausgeklammert sind: So wird etwa das Rheinland um Düsseldorf – seit 1386 immerhin die offizielle Residenzstadt der Herzöge von Berg – nicht länger als ein Teil der bergischen Region wahrgenommen. Das gleiche gilt für das östliche Köln um Deutz und Mülheim, aber auch etwa im Norden für jene Bereiche, die man heute als „Ruhrgebiet“ bezeichnet. Die historischen Entwicklungen und Einschnitte im Verlauf des 19. und auch 20. Jahrhunderts haben dazu geführt, dass sich vor allem an den Rändern des Bergischen Landes die regionalen Identitätszugehörigkeiten verschoben haben.

Berg und Burgen

Wir entscheiden uns, den Beginn unserer Reise an den historischen Ursprung des „Bergischen“ zu verlegen: Bei Opladen verlassen wir die Autobahn - wir werden sie danach nicht mehr nutzen – und fahren weiter östlich nach Odenthal, wo idyllisch am Flusslauf der Dhünn gelegen, sich nicht nur der Altenberger Dom und das bekannte früheres Zisterzienserkloster (heute: die katholische Jugendbegegnungsstätte Haus Altenberg) befinden. Etwas weiter südlich, auf einem Felssporn oberhalb des Flusses liegen die steinigen und namensgebenden Überreste der „Burg Berge“: Die ab 1060 begonnene Burganlage stellte den ersten befestigten Sitz des Hauses „von Berg“ dar („de monte“ in den auf Latein verfassten Urkunden).

Burg Berge, Odenthal-Altenberg, Standort des ehemaligen Hauptgebäudes. Foto:  COPYRIGHT: Frank Vincentz, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons
Burg Berge, Odenthal-Altenberg, Standort des ehemaligen Hauptgebäudes. Foto: COPYRIGHT: Frank Vincentz, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons
Gottfried Böhm, Herz-Jesukirche, Bergisch-Gladbach (OT Schildgen), 1960. Ansicht von der Straße. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gottfried Böhm, Herz-Jesukirche, Bergisch-Gladbach (OT Schildgen), 1960. Ansicht von der Straße. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Innenhof der Herz-Jesukirche von Gottfried Böhm, Bergisch-Gladbach (OT Schildgen), 1960. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Innenhof der Herz-Jesukirche von Gottfried Böhm, Bergisch-Gladbach (OT Schildgen), 1960. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Kirchenschiff mit „Beichttürmen“. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Kirchenschiff mit „Beichttürmen“. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Paradiesgarten mit Umgang. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Paradiesgarten mit Umgang. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gartensiedlung Gronauer Wald, Villa für das Management der Papierfabrik Zanders an der Richard-Zanders-Straße, Bergisch Gladbach. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gartensiedlung Gronauer Wald, Villa für das Management der Papierfabrik Zanders an der Richard-Zanders-Straße, Bergisch Gladbach. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Detail des Türgriffs. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Detail des Türgriffs. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Stuhl aus der Bauzeit. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Stuhl aus der Bauzeit. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas

Tatsächlich blieb von der Burg nur der künstlich behauene Bergsporn samt einiger Fundamentreste übrig: Das Bruchsteinmauerwerk fand überwiegend beim Bau des benachbarten Zisterzienserklosters Wiederverwendung, nachdem die Grafen von Berg im Jahr 1133 ihren Sitz weiter nördlich auf die neu errichtete „Burg Neuenberge“ (heute: Schloss Burg/ Solingen) an die Wupper verlagert hatten.

Unerwartet registrieren wir auf der weiteren Fahrt Richtung Bergisch Gladbach, dass die uns bekannte Kirche Gottfried Böhms Herz-Jesu (1960 fertiggestellt) im Ortsteil Schildgen über die Landstraße direkt mit Burg Altenberge verbunden ist: Beide liegen an der Altenberger-Domstraße. Interessanterweise wohnt auch dem katholischen Nachkriegskirchen- und Gemeindebau etwas Burgartiges inne: Die brutalistisch aus Sichtbeton geschalte, fünf Meter hohe Umfassungsmauer, die von einem zinnenartigen Ornamentfries gesäumt wird, schließt die Straßenfront des Ortbildes und lässt zugleich eine sakrale Hofhausanlage entstehen, die von der Literatur oftmals als „orientalisierend“ und Ausdruck eines „Himmlischen Jerusalems“ beschrieben wird.

Besonders markant – und für Böhms zahlreiche Kirchenbauten eher ungewöhnlich – sind dabei die sechs geometrischen Kegeldächer, welche den Altarbereich, aber auch die die turmartig ausgebildeten Tauf- und Beichtzonen des Kirchenbaus, den Glockenturm und die zentrale Eingangssituation in der Außenmauer akzentuieren.

Der Innenraum der Kirche wird durch einen weiteren Innenhof eingeleitet: Wie ein Paradiesgärtchen wird er von raumhoch ausgebildeten, filigranen Glasvorhängen eingefasst, die kleinteilig aus bleigefassten Scheiben elementiert sind. Dazu flankieren gusseiserne Säulen die Zugänge bis hinein in das Hauptschiff der Kirche – lesbar als eine zeichenhafte Reverenz an das eisenindustrielle Erbe der Region? Nicht nur bei der in die Architekturgeschichte eingegangenen Umwidmung der benachbarten Schlossruine von Bensberg in das Rathaus der Stadt (1962-70), sondern auch bei der etwas früher realisierten Herz-Jesu-Kirche scheint Gottfried Böhm sich jedenfalls mit dem Genius Loci des Bergischen Landes vertraut gemacht zu haben.

„Extra muros“ setzen wir unsere Fahrt weiter fort durch Bergisch-Gladbach: Auf einer breiten Magistrale passieren wir die Ränder der Altstadt, bewegen uns entlang der riesigen innerstädtischen Brache der ehemaligen Papierfabrik Zanders, die seit 1829 bis zur endgültigen Insolvenz vor einigen Jahren ihre Fabrikationsstandorte am Bachlauf der Strunde unterhielt. Die ansteigende Ausfallstraße Richtung Overath tangiert die äußere Villenbebauung der Gartensiedlung Gronauerwald. Seit der Jahrhundertwende entstand hier bereits ab 1898 – vier Jahre bevor in Berlin die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft gegründet wurde (DGG) - nach den Ideen der englischen Gartenstadt-Bewegung eine Werkssiedlung mit Mietwohnungsbau und Einfamilienhäusern und dem erklärten Ziel, Arbeiter und Angestellte auch wohnend an den Produktionsstandort zu binden.

Ländliche Geschlossenheit: das Oberbergische

Hinter Overath bekommen wir die ersten Panoramaausblicke über die Landschaft; das Oberbergische Land beginnt sich von seiner ländlicheren Seite zu zeigen: Die Landstraße windet sich durch die Täler vorbei an Feldern und Grünland, Streuobstwiesen und Wäldern. Dazwischen zerstreut in den Tälern immer wieder kleinere Hofanlagen.

Wir erreichen das sogenannte „Homburger Ländchen – ein Landstrich, der über Jahrhunderte im Besitz des Hauses Wittgenstein-Sayn war und erst unter Napoleonischer Besetzung 1806 Teil des neu begründeten Großherzogtums Bergisches Land wurde. Hinter Much geht es weiter nach Marienberghausen – ein kleines Dorf, das gleich zweimal - 1969 und 1991 - die Auszeichnung „Unser Dorf soll schöner werden“ errungen hat. Eine Auszeichnung, die vielleicht auch für das Selbstverständnis dieser Region stehen mag, wo man einen gewissen Stolz auf Traditionen spürt – was allerdings nicht im Umkehrschluss heißen soll, dass es hier nichts Zukunftsweisendes gebe: Denn tatsächlich wurden in diesem Dorf – seiner Zeit weit voraus – sämtliche Straßen und Bürgersteige zugunsten eines frei fließenden öffentlichen Raumes gestaltet, der seine Struktur nicht durch die Verkehrsplanung, sondern vor allem durch die Architektur und begleitenden gärtnerischen Anlagen erhält.

Oberbergische Landschaft. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Oberbergische Landschaft. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gemeindezentrum Marienberghausen, Detail. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gemeindezentrum Marienberghausen, Detail. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Hinter der Kirche, Nürnbrecht. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Hinter der Kirche, Nürnbrecht. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Kleinteilige Bebauung hinter der Hauptstraße, Nürnbrecht. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Kleinteilige Bebauung hinter der Hauptstraße, Nürnbrecht. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Industrieanlage Papiermühle an der Bröhl, Nürnbrecht. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Industrieanlage Papiermühle an der Bröhl, Nürnbrecht. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Foto: Karen Jung/ Paul Andreas

Abseits der tangierenden Landstraße gruppiert sich der Ortskern idyllisch um die schlichte, weiß gekälkte Dorfkirche mit dem über 800 Jahre alten Glockenturm als ältestem Bestand. Im Innenraum begegnen wir den um 1910 wiederentdeckten kolorierten, fantasievoll ausgeschmückten Wandfresken einer Darstellung des Jüngsten Gerichtes, die 1620 rigoros übermalt wurden, nachdem die Wittgensteiner Landesherren zum protestantischen Glauben übergetreten waren.

Draußen wird das historische Ensemble aus Kirche und Bürgerhäusern ergänzt von dem neu entstandenen, barrierefrei zugänglichen Kirchplatz, der durch den Abriss des alten, baufälligen Pfarrhauses und den geschickt eingefügten Bau eines neuen Gemeindehauses nach Plänen von bonfanti architekten aus Wiehl entstanden ist: Das Gefälle des Grundstückes ausnutzend, bettet sich der lang gestreckte Baukörper angenehm flach in die Gesamtsituation ein und erhält so die Ansichten auf die Kirche, aber auch auf die umliegenden Höfe, die sich über die terrassierte Hangsituation verteilen. Die dunkel gebeizte Holzfassade und Natursteinmauern kontrastieren dabei harmonisch mit dem Kirchenbau und dem einbezogenen Bestand einer früheren, heute ebenfalls für die Gemeinde umgenutzten Pfarrscheune.

Die gelungene Symbiose aus Gemeindehaus und Dorfplatz, aus altem Bestand und passgenauer Hinzufügung noch im Kopf folgt wenige Kilometer darauf der große „Gewerbeschock“: Entlang des Stenzenbaches weisen die ersten entstehenden Hallenbauten auf ein neues, überdimensioniert wirkendes Gewerbegebiet hin, am Horizont umgeben von Wiesen, Äckern und Auen. Nur wenige Kilometer davon entfernt finden wir die weitläufigen Anlage der vor 400 Jahren begründeten, vor 15 Jahren insolvent gegangenen Homberger Papiermühle an der Bröhl: Einige der nachkriegszeitlichen Industriehallen dienen heute kulturellen Nutzungen oder als Event-Location – der überwiegende Teil des Areals liegt allerdings sichtlich brach. Hätte sich das nicht – etwas Umbau-Geist vorausgesetzt – hervorragend als Gewerbegebiet oder Working-Space wiederverwenden lassen? Vielleicht kommt das noch.

Angesichts der fortgeschrittenen Zeit verwerfen wir unseren ursprünglich geplanten Stopp am Homberger Schloss und setzen unsere Route in das direkt benachbarte Nümbrecht fort: Wir laufen die malerische, verkehrsberuhigte Hauptstraße entlang – kleinteilige Bebauungen, viele davon mit repräsentativer Schieferfassade, manche gar mit klassizistischem Säulenportikus, rahmen die vom Einzelhandel belebte Einkaufsstraße. Zentraler Blickpunkt der Straße ist die evangelische Kirche, die mit ihrem wuchtigen romanischen Glockenturm und den von einzelnen Giebeldächern überwölbten Seitenkapellen eine einzigartige weiße Silhouette am Horizont zeichnet.

Nach kurzer Kaffeepause – die obligatorische „Bergische Kaffeetafel“ muss hier allerdings noch warten – nutzen wir die letzte helle Stunde des Tages und fahren auf engen Straßen vorbei an Pferdegestüten und Viehherden nach Gut Rottland. Ein Kontrast zu der fast beschaulich manchmal auch großbürgerlich wirkenden Architektur des 18. Und 19. Jahrhunderts, aber auch hier – unerwartet – ein Weiternutzen: Denn es handelt sich bei dem Gut Rottland um eines der eher selten noch anzutreffenden Beispiele von nationalsozialistisch initiierter und gebauter Architektur.

Relikte aus bleierner Zeit

Auf ein monumentales, überdimensional angelegtes und im nationalsozialistischen Pathos wie etwas grobschlächtig wirkendes Eingangstor mit einer Halbreliefgruppe aus einem Sämann und einem ehemals gegenüberstehenden SS-Mann (heute im Landesmuseum Bonn) folgt eine axial orientierte Straße, die auf eine Anhöhe führt. Hier erstrecken sich die Trakte einer weitläufigen, streng symmetrisch geordneten Hofanlage, mit der Robert Ley – Chef der Deutschen Arbeitsfront und einer der Chefideologen der NSDAP mit familiären Wurzeln im Oberbergischen  – die regionale Landwirtschaft auf ein neues Produktivitätsniveau während der NS-Zeit führen wollte.

Oberbergisches Rindervieh. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Oberbergisches Rindervieh. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gut Rottland, monumentales Eingangstor am Fuße des Gutes. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gut Rottland, monumentales Eingangstor am Fuße des Gutes. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gut Rottland, Relief-Figur des Sämanns, Eingangstor. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gut Rottland, Relief-Figur des Sämanns, Eingangstor. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gut Rottland, Hauptplatz mit Lindenbaum. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gut Rottland, Hauptplatz mit Lindenbaum. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gut Rottland, Seitentrakte, zu Wohnungen umgenutzt Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gut Rottland, Seitentrakte, zu Wohnungen umgenutzt Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gut Rottland, Detail der Sockelmauer. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gut Rottland, Detail der Sockelmauer. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Hülsenbeck, alte Dorfkirche. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Hülsenbeck, alte Dorfkirche. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Hülsenbeck, alte Dorfkirche, Eingangssituation mit der Unterseite des Turmaufganges. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Hülsenbeck, alte Dorfkirche, Eingangssituation mit der Unterseite des Turmaufganges. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas

Nach Plänen des Architekten Clemens Klotz wurden die Gebäude auf einem Plateau in einer rationalisierten Fachwerkbauweise in einem dezidierten Maßstabsprung ausgeführt – samt Bunkeranlagen und dem Sockel für eine, Energieautarkie versprechende Windkraftanlage. Das ganz besonders überdimensionierte Herrenhaus ließ der Bauherr noch kurz vor der Ankunft der Alliierten zerstören – die verbliebenen Stallungen und Nebengebäude sind heute in Privatbesitz und werden hauptsächlich als Gestüt genutzt. Teilweise wurden sie aber sehr pragmatisch für Wohnzwecke angeeignet und umgebaut, was in dem historischen Kontext doch etwas skurril wirkt.

Angesichts der eingekehrten Dämmerung steht die Rückfahrt gen Norden an – nicht ohne jedoch einen Stopp in dem oberbergischen Dorf Hülsenbeck zu machen, das uns wegen seiner aktiven Dorfgemeinschaft wegen besonders ans Herz gelegt worden war: Der Ort entpuppt sich als idyllisches Kleinod mit der alten Kirche als Mittelpunkt, um die die zentrale, baumbestandene Dorfstraße herumgeführt wird. Außen eine schlichte Natursteinfassade – innen ein üppig und farbenprächtig gestalteter Barockaltar, der vor einigen Jahren aufwendig restauriert wurde. Wir landen direkt in einer Generalprobe für den Adventsgottesdienst: während der Chor sich still im Glockenturm formiert, erläutern uns drei Damen auskunftsfreudig die Historie des Bauwerks und erzählen von dem benachbarten Café, das seit einigen Jahren als zentraler öffentlicher Treffpunkt des Dorfes die Bewohner*innen neu zusammenbringt.

Lädierte Architekturjuwelen

Über Wippersfurth und Remscheid erreichen wir schließlich unsere letzte Station: eine zum Hotel umgebaute Industriellenvilla der Jahrhundertwende. Allein die Lage am Rande von Ronsdorf ist schon etwas speziell – erst am nächsten Morgen registrieren wir, dass das neobarock verzierte, mit Naturschiefer verkleidete Anwesen mit seinem alten Garten aus einem Gewerbegebiet herausparzelliert ist, das zur Bauzeit die dazugehörigen Fabrikanlagen beherbergte.

Diese hautnahe Anbindung von Wohn- und Arbeitsstätte wird uns den nächsten Tag durch das Nierderbergische weiter begleiten: Wir machen uns über Beyenburg und Ennepetal auf nach Hagen, wo uns am westlichen Ortseingang die frisch erneuerte, lang gestreckte Eppener Straße durch den einstigen Produktionsstandort der bekannten Zwieback-Marke Brandt hindurch navigiert, die hier von 1912 bis zu ihrem schwer umstrittenen Umzug nach Thüringen 2003 produzierte: Alte Produktionshallen aus der Vorkriegszeit und eine unweit davon situierte Wohnsiedlung aus den 1950er Jahren mit viel Kunst am Bau und einem Kirchenbau als Bezugspunkt stehen dem neuen „Brandt-Quartier“ gegenüber:  Lebensmitteleinzelhandel mit viel Parkraum, aber auch gekoppelt mit Büroraum - auch die vor einigen Jahren nach Hagen zurückgekehrte Verwaltung der Brandt GmbH zählt zu den sogenannten Ankermietern.

Hotel Park Villa in Wuppertal-Ronsdorf. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Hotel Park Villa in Wuppertal-Ronsdorf. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Brandt-Werkssiedlung aus den 1950er Jahren mit Kunst am Bau. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Brandt-Werkssiedlung aus den 1950er Jahren mit Kunst am Bau. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Ehemaliger Produktionsstandort von Brandt in Hagen-Haspe. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Ehemaliger Produktionsstandort von Brandt in Hagen-Haspe. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Maschinenhaus der Harkort‘schen Fabrik. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Maschinenhaus der Harkort‘schen Fabrik. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gartenseite von Haus Harkorten. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Gartenseite von Haus Harkorten. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas

Von den Relikten westdeutscher Zwieback-Produktion geht es zu einem Juwel bergischer Baukunst. In Hagen-Haspe steuern wir das Haus Harkorten an, das auf einer Anhöhe am Ende einer erschließenden Lindenallee liegt. Der auf Fotos oft alleinstehend dargestellte Bau wird von zwei Lager- und Wohngebäuden flankiert, die auf dem Gutbesitz der Familie bereits zuvor vorhanden waren. 1756 beauftragten Johann Caspar Harkort III und seine Ehefrau Louisa Catharina Märcker einen heute nicht mehr bekannten Architekten mit dem Entwurf des Hauses, das trotz des hohen Mansarddaches und des doppelten Rokoko-Giebels schlicht und auch zierlich anmutet.

Die nahezu vollständig mit Schiefer eingekleideten, symmetrisch organisierten Fachwerkfassaden mit der verzierten Haustür an zentraler Stelle bleiben uns wegen der kompletten Einrüstung allerdings vollständig verborgen – jahrzehntelanger Leerstand haben dem Bauwerk sichtlich schwer zugesetzt. Bleibt zu hoffen, dass das auch in den Innenräumen weithin im Originalzustand erhaltene, denkmalgeschützte Gebäude durch Sanierung und Restaurierung wieder seine einstige Qualität erreicht. Die erhöhte Lage des Gutes oberhalb der Ennepe, die früher allein von Wald und Wiesen geprägt war, wird heute schon durch eine benachbarte Wohnsiedlungen arg beeinträchtigt: Vor allem eine in den letzten Jahren aus dem Acker gestampfte Einfamilienhaussiedlung kommt dem Baudenkmal sehr nahe.

Nur wenige hundert Meter talwärts entdecken wir die letzte bauliche Reminiszenz der früheren Harkort’schen Fabrik: Das um 1850 aus Backstein errichtete Maschinenhaus ist vermutlich auch das zuletzt entstandene Gebäude der Anlage, wo im 18. Jahrhundert zunächst Eisenkleinteile und Waffen, dann Eisenbahnbauteile und später auch Brückenelemente produziert wurden. Der Standort Haspe, angebunden über eine Bahnstrecke an eine Kohlenzeche, wurde zur Keimzelle des später weitverzweigten Harkort‘schen Industrie-Imperiums. Heute beherbergt das denkmalgeschützte Werksgebäude eine Tischlerei.

Weißes Fachwerk, schwarzer Schiefer

Wir folgen der Deutschen Alleenstraße Richtung Südwesten, wo uns noch frühere Denkmäler bergischer Bautradition erwarten: In Wuppertal-Langerfeld erreichen wir am Rande eines Gewerbegebietes unweit der Wupper das Bleicherhaus Tönnies. 1712 von der gleichnamigen Familie errichtet, dient es im Erdgeschoss sowohl als Produktions- und Arbeitsstätte mit einer diebstahlgeschützten Garnkammer wie auch einem Stall. Das zweigeschossige Gebäude markiert einen interessanten Übergangspunkt in der bergischen Baukultur: Der Fachwerk-Ständerbau lagert hier bereits auf einem massiv ausgebildeten Erdgeschoss auf – obwohl gerade diese Massivbauweise erst rund 100 Jahre später im großen Maßstab im Bergischen einkehren wird. Bis dahin wurden allein Fundament, Keller und Kamin massiv in Bruchstein ausgebildet, das Fachwerk-Ständerwerk wurde aus Eichenholz, Stroh, und Lehm errichtet.

Zum anderen ist die Fachwerkfassade nur zur Giebelseite sichtbar, ansonsten ist sie mit geteerten Holzschindeln versehen. Bevor im Laufe des 18. Jahrhunderts die Fassaden aus Gründen des Brand- wie auch des besseren Wetterschutzes mit Schiefer versehen wurden, war das die regional typische Verkleidung. Auch die Dächer – sofern sie nicht sowieso aus Stroh gefertigt wurden – waren mit Holzschindeln versehen. Erst nach 1800 begann man die Gebäude tatsächlich mit roten holländischen Dachpfannen einzudecken, die mit dem typischen gedeckten Grünton der Fensterläden und den weiß gefassten Fenster- und Türenprofilen einen harmonischen Kontrast mit der dunklen oftmals geölten Schieferfassade erzielten.

Bleicherhaus Tönnies, Wuppertal-Langerfeld mit Schindelfassade. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Bleicherhaus Tönnies, Wuppertal-Langerfeld mit Schindelfassade. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Haus Hasenclever, Remscheid. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Haus Hasenclever, Remscheid. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Schieferhaus ohne Schiefer in Solingen-Grünewald. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Schieferhaus ohne Schiefer in Solingen-Grünewald. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Brücke über den Eschenbach. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Brücke über den Eschenbach. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Straßenbebauung am Eschenbach, Solingen-Burg. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Straßenbebauung am Eschenbach, Solingen-Burg. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Fachwerkhaus in Solingen-Burg. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Fachwerkhaus in Solingen-Burg. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Detail der Bruchsteinfassade, Bleicherhaus Tönnies. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Detail der Bruchsteinfassade, Bleicherhaus Tönnies. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas

Wir folgen der bis heute von alten Industrie- und Gewerbeanlagen begleiteten Wupper weiter Richtung Beyenburg um unseren Weg in das benachbarte Remscheid fortzusetzen. In der im Norden der Stadt können wir ein weiteres bergisches Wohnhaus in Beschau nehmen: Das ca. 1739 erbaute zweigeschossige Haus mit Steildach liegt als ältestes erhaltenes Gebäude inmitten der kleinen Hofschaft Hasenclev. Die typische, mit einer Reihung von Andreaskreuzen verzierte Fachwerk-Giebelfassade ist dabei auf das Tal ausgerichtet: Dort unterhielt der Bauherr Hasenclever eine Pulverfabrik, an die bis heute noch der Straßenname erinnert. Die jetzige Eigentümerfamilie, die das Haus seit 1832 (!) in ihrem Familienbesitz hält, hat das ansonsten zu drei Seiten mit Schiefer verkleidete und mit roten Dachziegeln eingedeckte Gebäude vor zwölf Jahren denkmalgerecht restaurieren lassen und die Bewohnerin – hier geboren – bewohnt es noch heute.

Unsere letzte Station ist Solingen – zunächst der Ortsteil Burg, wo am Fuße von Schloss Burg, jenem chronologisch zweiten Herrschaftshauptsitz der Herzöge von Berg, vermutlich eines der ältesten erhaltenen Fachwerkbauten des bergischen Landes zu finden ist: Oberhalb des hier stark kanalisierten Eschbaches, der in der Ortschaft direkt in die Wupper mündet, befindet sich ein schmales zweigeschossiges, giebelständiges Fachwerkhaus, das durch seine geringe Grundfläche (8,45 x 4,5m) etwas im Hintergrund steht. Es wird auf den Beginn des 16. Jahrhunderts datiert, ein seitlicher Anbau kam erst später als Erweiterung hinzu. Die relativ weit auseinanderstehenden Sparren des Steildaches sprechen dafür, dass dieses Gebäude ursprünglich noch mit Stroh eingedeckt war. 

Beim Flanieren durch den kleinen Ortsteil Burg, der wegen seines Schlosses heute ein beliebter Ausflugsort ist, begegnen wir einigen weiteren Gebäuden aus dem 17. Jahrhundert, aber auch Bauten späterer Jahrhunderte – die meisten davon sind ebenfalls als Fachwerkbau ausgebildet, allein stilistisch unterscheiden sie sich in bestimmten Details. Das Ortsbild wirkt dadurch vergleichsweise geschlossen. Dabei hat die Gegenwart den historisch gewachsenen Ort stark in Mitleidenschaft gezogen. Trotz angelegter Flussbauwerke raste das Hochwasser im Juli 2021 durch das enge Tal und zerstörte so vieles.

Ganz anders der Kontext der Bauten, den wir in den früheren Hofschaft Obenpilghausen ansteuern, erst 1929 zu „Groß-Solingen“ eingemeindet: So liegt das freistehende, 1739 errichtete Haus des Klingenkaufmannes und Ortsbürgermeisters Weyersberg am relativ steilen Hang inmitten von überwiegend gründerzeitlich geprägten Blockrandbebauungen. Das zurückgesetzte, giebelständige Gebäude beherbergte einst die Wohnungen des Bürgermeisters und seines Amtsschreibers zusammen mit der der Amtsstube.

Drumherum zeigen sich in der Hanglage versprengt weitere, kleinere Fachwerkbauten, die vermutlich ebenfalls Teil der früheren Hofstätte waren – viele von ihnen partiell verschiefert und jenseits der Straße nur über schmale Zuwegungen erreichbar. Interessant ist, dass dieses ländliche Archipel nicht etwa der Wohnsitz von Bauern, sondern Händlern war: Seit dem Mittelalter galt im gesamten bergischen Land eine von Stadt und Land unabhängige Gewerbefreiheit – was dazu führte, dass sich in den freien Städten auch „Ackerbürger“ niederließen und auf den Dörfern spezialisierte Handwerker, Gewerbetreibende und Händler zu finden waren.

Es ist wieder dämmerig geworden – die letzte Fahrt unserer bergischen Tour führt uns in ein forsthäuslich anmutendes Café, welches seine Glanzzeiten mit Eislauf, Skischanze und Vergnügungsprogramm im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte. Nach fast 300 Autokilometern und mindestens genauso vielen Fotografien haben wir uns ein Kaffeestündchen redlich verdient, zünftig mit einer Bergischen Kaffeetafel. Bei Porzellankännchen (die aus Zinn gefertigte berühmte „Dröppelmina“ ist aus Hygienegründen, wie uns der Pächter mitteilt, schon länger außer Dienst gestellt und hat leider auch keinen Nachfolger gefunden), warmen Waffeln mit roter Grütze und dick mit Butter oder Milchreis bestrichenem Schwarz- und Hefeweissbrot lassen wir unsere Bergische Tour ausklingen.

Ein Résumé

Auch die Bergische Region zeigt uns, wie Identität und Geschichte, Geographie und Wirtschaft die Baukultur über viele Jahrhunderte nicht nur geprägt haben, sondern auch eine (nicht immer explizit ausgedrückte und ganz bewusste) Sehnsucht nach einer Fortschreibung sichtbar wird. So haben wir während unserer Bergischen Tour Beispiele ausmachen können, wo selbst in Zeiten des radikalen Brutalismus, der Schiefer als Zitat an der rauen Betonfassade Verwendung fand auch hier also der Versuch baukulturelle Anknüpfungspunkte – wie geschickt oder ungeschickt auch immer das versucht wurde.

Der Eindruck einer regionalen Baukultur entsteht optisch vor allem durch die schlichten, nur durch wenige Verzierungen geprägten Bautraditionen des Fachwerkes, die zunächst mit dunklen Holzschindeln, später dann mit den charakteristischen Schieferverkleidungen kombiniert werden. Interessanterweise geschieht dies über Stilepochen hinweg: Die formalen Veränderungen, die etwa Barock, Rokoko, Empire-Stil und Biedermeier mit sich bringen, lösen nicht den Materialkanon ab – im Gegenteil: neue, in anderen Regionen in Stein gemeißelte Stilelemente werden sogar in den regional vorhandenen Materialien Holz und Schiefer ausgeführt.

Schieferbekleidetes Empire-Stil-Haus mit ionischen Säulen aus Holz in Nürnbrecht, vermutlich 19. Jahrhundert. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Schieferbekleidetes Empire-Stil-Haus mit ionischen Säulen aus Holz in Nürnbrecht, vermutlich 19. Jahrhundert. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Erweitertes Schiefer-Fachwerkhaus in Solingen. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Erweitertes Schiefer-Fachwerkhaus in Solingen. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Trapezblech als Schieferersatz, Bergisch-Gladbach. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Trapezblech als Schieferersatz, Bergisch-Gladbach. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Saniertes Schiefer-Fachwerkhaus in einer Hofschaft in Solingen. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Saniertes Schiefer-Fachwerkhaus in einer Hofschaft in Solingen. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Wohnanlage aus den 1970er Jahren mit Schiefergiebel in Bergisch-Gladbach. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Wohnanlage aus den 1970er Jahren mit Schiefergiebel in Bergisch-Gladbach. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Haus Zillertal im Gelpetal. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas
Haus Zillertal im Gelpetal. Foto: Karen Jung/ Paul Andreas

Auch nach der durch neue Transportmittel und -wege beförderten Einführung der Massivbauweise wird vielfach an der typisch bergischen Fassadengestaltung festgehalten, auch wenn es baukonstruktiv gar nicht mehr erforderlich war. Erst im 20. Jahrhundert bricht diese Linie vollständig ab – was man auch daran ablesen mag, dass die Schieferfassaden der nicht denkmalgeschützten Altbauten heute vielfach durch verzinktes Trapezblech ersetzt werden.

Abgesehen von der visuellen Architektursprache gibt es im Bergischen Land aber auch einige typische räumliche Auffälligkeiten: Gerade im Niederbergischen, wo die Böden schlechter waren und die Menschen neben der Landwirtschaft mehr angehalten waren, zusätzlichen gewerblichen Tätigkeiten nachzugehen, lässt sich die enge Verzahnung von Wohnhaus, Produktionsstätte und (energieerzeugendem) Flusslauf bis in heutige Siedlungsstrukturen hinein baulich nachverfolgen.

Diese beobachteten baukulturellen Auffälligkeiten – bei vertiefter Recherche gebe es sicher noch viele mehr zu konstatieren – legen es nahe, dass sich auch Architekten in ihren Projekten damit differenzierter auseinandersetzen sollten. Die Sehnsucht nach identitätsstiftender Architektur der Menschen vor Ort – das haben uns viele gelungene, manchmal auch skurrile Beispiele gezeigt – scheint jedenfalls viel stärker ausgeprägt zu sein, als Architekten und Bauverantwortliche oftmals glauben. Anstatt auch weiterhin eine uniquere Mainstream-Moderne zu entwerfen, die ihre Absolution durch das zweifelhafte Etikett „Bauhausstil“ erhält (auch davon bekommt man im Bergischen Land natürlich so einiges zu sehen), sollten auch die Fachleute in einen anderen Modus wechseln und damit beginnen, die verborgenen Wünsche der BewohnerInnen nach Einfügung, Anknüpfung und Weiterbau ernster zu nehmen. Architekten, die sich um den genius loci und das kollektive Gedächtnis eines Ortes bemühen, dürfte das Bergische Land jedenfalls Hoffnung machen.

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