Wie wollen wir mit unserem baulichen Bestand umgehen? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Bundesrepublik, sondern stellt sich auch in anderen Ländern und wird damit zu einer der internationalen baukulturellen Aufgabe. Eine besondere Herausforderung stellt dabei der Umgang mit brutalistischer Architektur dar. Die Meinungen zu den großen, grauen Riesen gehen weit auseinander und doch sind sie wichtiger Teil der Nachkriegsarchitektur, die circa 60 Prozent unserer gebauten Umwelt in Nordrhein-Westfalen ausmachen.
Rückblick auf die virtuelle Konferenz „Brutal Different“
Die Frage zum Umgang stand im Mittelpunkt des ersten baukulturellen Austauschs zwischen Israel und Nordrhein-Westfalen, der mit der digitalen Konferenz „Brutal Different“ am 12. Januar 2022 einen Auftakt bildete. Initiiert von Baukultur Nordrhein-Westfalen, dem Büro des Landes Nordrhein-Westfalen für Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Jugend und Kultur in Israel und dem Rat für die Erhaltung des kulturellen Erbes in Israel, wurde die Genese, die heutige Wertschätzung und die Chancen zur Neuausrichtung vieler der mittlerweile in die Jahre gekommenen Nachkriegsarchitekturen beleuchtet.
Einblick in die Fachdebatte in Israel und Nordrhein-Westfalen
Denkmalpfleger Dr. Jeremie Hoffmann erläuterte den Zusammenhang zwischen brutalistischer Architektur und dem aufkeimenden Selbstbewusstsein des jungen Staates Israel. Dr. Karin Berkemann, Mitherausgeberin von moderneREGIONAL, moderierte die Konferenz fachkundig. Darüber hinaus zeigt sie, dass in Deutschland die aktuell vorsichtige Wertschätzung der „Betonmonster“ ihren Ursprung unter jungen Menschen in Social Media hatte.
Die Expert*innen aus Architektur, Denkmalpflege und Stadtentwicklung und -planung veranschaulichten mit ihren Beiträgen viele unterschiedliche Bedeutungsebenen, aber auch Gemeinsamkeiten in den beiden Ländern. Dabei wurden viele Werte und Leistungen dieser Architekturen sichtbar, aber auch viele Fragestellungen zu möglichen Chancen und Neuausrichtungen erläutert.
So zeigte Prof. Dr. Christoph Grafe von der Bergischen Universität Wuppertal, wie immer öfter vor allem junge Architekt*innen in Deutschland Bauten der Nachkriegszeit – unabhängig von ihrem Denkmalwert – als Ressource verstehen und umnutzen. Im deutschen Sprachgebrauch hat sich die Bezeichnung „Umbaukultur“ und im englischen Sprachraum „adaptive reuse“ für diese Umbauprozesse durchgesetzt.
Prof. Isaac Meir veranschaulichte, welchen Beitrag die Planungen und Bauten in der Stadt Be’er Scheva in der Negev-Wüste heute zum Klimaschutz leisten. Dort gibt es verschattete, im Inneren der Wohnblocks liegende Fußgängerwege.
Mit Be‘er Scheva, der israelischen Hauptstadt des Brutalismus, beschäftigte sich ein eigener Konferenzbereich ausführlich. Mitten in der Negev Wüste wurde ein radikales Planungskonzept umgesetzt. In Deutschland würde man von Planungen auf der „grünen Wiese“ sprechen. Ein solches Beispiel – bei Weitem nicht vergleichbar in Größe und Ausmaß mit dem in Israelischen, aber getragen von Visionen für neue Städte im Ruhrgebiet war die „Neue Stadt Wulfen“ (Dorsten). Das Planungskonzept wurde auf der Konferenz in dem Filmbeitrag (siehe Mediathek „Neue Stadt Wulfen – ein Beitrag zur Moderne“) anschaulich gemacht.
Den Abschluss der Konferenz bildete die Auseinandersetzung mit dem häufig negativen Image der brutalistischen Architektur in der breiten Öffentlichkeit. Hier bedarf es einer qualifizierten Betrachtung und weiterem Austausch. Und so war diese Konferenz auch der Auftakt für eine weitere kritische Auseinandersetzung zur Nachkriegsarchitektur.
Fortsetzung geplant
Eine Fortsetzung des binationalen Austauschs ist bereits als digitale Konferenz noch für 2022 unter dem Titel „Brutal Change“ geplant. Bei dieser Konferenz wird es um praxisnahe Fragen gehen: Erhalt, materialgerechte Sanierung, energetische Ertüchtigung, Um- und Neunutzung sowie ökonomische Bewertung der Baubestände.